: Ein Inquisitor aus Angst
■ Der erste Roman des Österreichers Florian Leibetseder
Das Buch ist eine starke Herausforderung der Geschmacksnerven. Das Erstlingswerk des 1960 in Wien geborenen Florian Leibetseder schildert drastisch Szenen aus einem beschädigten Leben, das am Schluß aus jeder Kontrolle gerät und wie ein Vehikel, dessen Bremsen nicht mehr funktionieren, in einer alptraumhaften Schreckensfahrt auf den Abgrund zurast.
Tutterer, der erbärmliche Held dieser elenden Biographie, ist Aufseher in einem Gefängnis. Durch diese Arbeit hat er sich, wie er glaubt, auf die Seite der „Schlüsselinhaber“, der Mächtigen dieser Welt, geschlagen. In Wirklichkeit ist er aber nur das Anhängsel einer machtvollen Maschinerie, deren Funktionsweise er eher erleidet als mitbestimmt. Dabei ist er Gefängniswärter weniger aus Überzeugung denn aus Lebensangst, die er sozusagen mit der Muttermilch eingesogen hat — als Opfer einer dominanten und selbstgerechten Mutter, die ihm, vom Vater früh verlassen, eintrichtert, daß das Leben ein Leidensweg, Sexualität etwas Schmutziges und Sündiges und Gehorsam, Gottesfurcht und Mutterliebe das einzig Wahre sind.
Mit dieser Hypothek beladen, will Tutterer kein selbstbestimmtes Leben gelingen, was vor allem in seiner gestörten Sexualität deutlich wird. Der über 40jährige Mann, der immer noch bei seiner Mutter lebt und sich von ihr versorgen und bevormunden läßt wie ein Schulbub, fürchtet die Frauen. Seine sexuellen Fantasmen lebt er allein in der Lektüre des „Schlüsselloch“ aus, eines Pornomagazins, dessen Ausgaben er sammelt und wie einen Schatz hütet.
„Schlüsselloch“, das ist auch der Romantitel, der vielfach signifikant ist. Aus der Perspektive des Beobachters, des Voyeurs, zieht Tutterer seine Lust. Das Leben hält er auf Distanz. Im Naturzustand ist es ihm fremd und unheimlich wie die archaische Wildheit der Gefangenen, auf die er durch das Zellenloch guckt.
Die Tragödie beginnt für Tutterer an dem Tag, da er sich entschließt, aus den Fotoschönen seiner Hefte ein Tableau vivant für sein Leben zu machen. Er fährt nach Südamerika, um sich dort für harte österreichische Schillinge eine Frau zu kaufen. Aus Brasilien kommt er mit Juanita zurück, die er stolz im Dorf herumzeigt. Die langbeinige, glutäugige Traumfrau wird zum Objekt des Staunens, der Neugierde und Begierde. Bald gibt es Probleme mit der Mutter, die Juanita als Konkurrentin haßt, und den Kollegen und Nachbarn, die sich an die exotische Schönheit heranmachen. Nicht nur sprachlich können sich die Gekaufte und ihr Käufer nicht verständigen. Tutterer muß feststellen, daß der Umgang mit einem Menschen ungleich schwieriger ist als mit einem Bild. Außerdem erschreckt den verklemmten Puritaner die sensuelle Leidenschaft der Frau. Sein Leben gerät aus den Fugen.
In dieser krisenhaften Situation weiß sich Tutterer nur als Gefängniswärter zu helfen. Das Schlafzimmer seines Hauses baut er um zur Zelle für Juanita. Aber die Wildheit des Weibes dampft noch durch die Wände ihres Gefängnisses. Immer stärker nimmt sie für Tutterer dämonische Züge an. Als Symbol des Bösen muß sie zu ihrer Erlösung und ihrem Heil bestraft werden. Tutterer wird zu ihrem Folterknecht und Inquisitor. In einer alptraumhaften Schlußsequenz schleppt er sie auf den Dachboden des Gefängnisses, prügelt sie halbtot und nagelt sie schließlich an das Kreuz des Dachbalkens. In dieser Szene vermischen sich die Motive bis zur Ununterscheidbarkeit. Sexus und Religion, Schuld und Lust, Blut und Sperma schießen zusammen zu einer phantasmagorischen Orgie der Gewalt.
Hier explodiert nicht nur die konfliktbesetzte Gemengelage eines pathogenen Charakters. In der unheilvollen Opposition von Tutterer und Juanita leuchtet der Autor auch eine unversöhnte Antithetik von Natur und Kultur aus und schreibt dabei zugleich die fatale Geschichte der Kolonisation auf der privaten Ebene fort: der psychisch depravierte und sexuell verklemmte Tutterer aus der sogenannte Ersten Welt, der die wirtschaftlich verelendete und erniedrigte Juanita aus der sogenannten Dritten Welt für seine kaputten Phantasien noch einmal ausbeutet. Daß das so exotisch nicht ist, bezeugt der boomende Sextourismus in die Entwicklungsländer.
Daß der Täter zugleich Opfer einer lebensfeindlich-nekrophilen Erziehungspraxis ist, wird auf jeder Seite des Buches deutlich. Ganz aus der Perspektive Tutterers geschrieben, wird der Leser beständig mit dessen im Licht der Entwicklung der Geschichte besonders unerträglich und makaber wirkenden Sentenzen und moralisierenden Wertmaßstäben traktiert. Spricht Tutterer davon, daß „die Erziehung den Menschen macht“ oder daß ein „heranwachsender Mensch Wertmaßstäbe braucht“, hat man als Leser kein Ohr mehr für die auch mitschwingende Ironie, sondern wünscht sich nur, daß Mutter, Pfarrer oder Lehrer nie die Finger auf diesen Jungen gelegt hätten. Daß er keinen Ausgang aus dieser auferlegten Unmündigkeit findet, zeigt sich, wenn in seinem inneren Monolog bis zu sechs Mal auf einer Doppelseite Halbsätze eingeschoben sind wie: „hat die Mutter gesagt“, „hat der Lehrer gesagt“, „hat die Mutter erzählt, denkt Tutterer“.
Mit „Schlüsselloch“ stellt sich der junge Florian Leibetseder in eine Tradition, die in den sechziger Jahren in Österreich den Heimatroman problematisiert hat. Dazu gehören Gerhard Fritschs Buch „Fasching“, aber auch „Die Wolfshaut“ von Hans Lebert oder „Der geometrische Heimatroman“ von Gert F. Jonke und mehr oder weniger das ganze Prosawerk von Thomas Bernhard. Sie kritisieren das sentimentale Bild einer heilen Provinz als falsche Idylle; sie flüchten nicht in eine illusionär-romantische Vergangenheit, sondern zeigen das brüchige Selbstverständnis einer problematischen Gegenwart.
Dabei weiß Leibetseder — auch als freischaffender Maler — genau hinzuschauen mit einem ebenso präzisen wie peinigenden Blick. Details werden nie ausgespart, sondern mit hoher Könnerschaft realistisch und mitleidlos gezeichnet. Nichts wird beschönigt. Man liest mit einer Mischung von Faszination und Widerwillen. So gottlos ist diese bigotte Welt, so grenzenlos ihr Selbstmitlied, so erbarmungslos die Selbstgerechtigkeit, so beschränkt das österreichische Kleinbürgertum, daß man immerzu hoffen möchte, der Autor habe übertrieben. Aber es ist zu befürchten, daß das nicht so ist. Michael Stoeber
Florian Leibetseder: „Schlüsselloch“. Residenz-Verlag, 1992, 162 Seiten, 39 DM.
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