„Die SPD hat die Verfassungsfrage tabuisiert“

■ Interview mit Otto Schily (SPD-MdB), der für eine Änderung des Asylrechts ist

taz: Herr Schily, was würde künftig zum Thema Asyl in der Verfassung der Bundesrepublik stehen, wenn Sie darüber zu entscheiden hätten?

Otto Schily: Leider steht die Frage nach der Verfassungsänderung immer am Anfang, wenn über Zuwanderung geredet wird. Wir brauchen aber ein Gesamtkonzept für die Zuwanderungspolitik, und in diesen Zusammenhang muß die Frage, ob wir die Verfassung ändern, ihren Platz haben. Lösen kann man das Problem ohnehin nicht, solange sehr ungleiche soziale und wirtschaftliche Verhältnisse in der Welt herrschen. Zuwanderungspolitik ist für mich nicht definiert über die Frage: Wie können wir unsere Abwehrhaltung noch mehr verstärken. Gerade wir wissen doch aus geschichtlicher Erfahrung, daß es immer zum Gedeihen der Bundesrepublik Deutschland und Mitteleuropas beigetragen hat, wenn wir Zuwanderer, die aus wirtschaftlichen und politischen Gründen gekommen sind, positiv aufgenommen haben. Und zum Verderb, wenn wir versucht haben, uns abzuschotten und auf eine vermeintliche Homogenität als Deutsche zurückzuziehen.

Nun aber zur Verfassung. Die gegenwärtige Verfassungslage trägt paradoxerweise dazu bei, daß der Schutz von politisch Verfolgten in der Bundesrepublik nicht in dem Maße gewährleistet ist, wie es nach einhelliger Meinung aller Sozialdemokraten der Fall sein müßte. Deshalb bin ich für andere verfassungsrechtliche Garantien anstelle des Individualgrundrechts, das mit der Rechtswegegarantie verbunden ist. Möglich wäre eine institutionelle Garantie, formuliert etwa so: Deutschland gewährt politisch Verfolgten uneingeschränkt Asyl. Den Asylsuchenden wird ein faires Verfahren zugesichert. Das wäre eine Selbstverpflichtung des Staates in der Verfassung, also von hohem Rang. Zusätzlich muß natürlich die Kontrolle gesichert sein. Wir könnten ein Zulassungsverfahren vorschalten. Im Falle der Nichtzulassung von Bewerbern zum Asylverfahren gäbe es als Widerspruchsinstanz nur noch einen Beschwerdeausschuß. In den anderen Fällen steht der Rechtsweg offen wie bisher.

Das hieße also, nach wahrscheinlich unbegründeten und wahrscheinlich begründeten Anträgen zu sortieren. Die wahrscheinlich unbegründeten hätten nur noch eine Widerspruchsinstanz, den Beschwerdeausschuß...

Man sollte auf der Hut sein und eine zusätzliche Sicherung einführen. Ich bin dafür, die unabhängige Institution eines Flüchtlingsbeauftragten zu schaffen. Das wäre sogar eine bessere Möglichkeit zur Kontrolle des Staates, als wir sie jetzt haben. Diese Institution müßte mit Personal und Geld ausgestattet sein, vom Bundestag mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. Sie müßte Interventionsrechte haben, von sich aus Beschwerde einlegen können und bei politischen Entscheidungen gehört werden. Ihr Status wäre vielleicht dem der Bundesbank vergleichbar.

Selbst wenn sie vergleichbar mächtig wäre - worauf gründen Sie die Hoffnung, diese Institution würde aus anderen als Abwehrmotiven handeln? Eine anwaltliche Position für die Flüchtlinge ist schwer vorstellbar.

Das müßte in ihrem Auftrag, der in die Verfassung gehört, festgeschrieben sein. Auch sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt, das vorhandene Engagement für Flüchtlinge in dieser Institution zu verankern. Beispielsweise könnten Organisationen wie amnesty international Mitspracherechte erhalten.

Das Zulassungsverfahren müßte, wenn es einen Effekt haben soll, schnell abgewickelt werden. Die Tendenz zu pauschalen und nicht mehr individuellen Entscheidungen wäre unvermeidbar.

Nein. Es muß ein individuelles Verfahren geben, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention vorschreibt, allerdings nicht unbedingt ein individuelles Gerichtsverfahren. Das Zulassunsverfahren wäre ein individuelles Verfahren, leidet aber nicht unter der unvermeidlichen Schwerfälligkeit der Verwaltungs- und Gerichtsverfahren. Ich wünsche es mir nicht, aber ich fürchte es: Unsere Vorschläge unterhalb der Verfassungsveränderung, vermutlich auch das neue Gesetz zur Verfahrensbeschleunigung, stoßen da einfach an Grenzen. Die heutige Lage ist so: Die Gefahr, daß das begründete Gesuch eines politisch Verfolgten nicht zur Geltung kommen kann, wird durch die Schrankenlosigkeit des Grundrechts und des Rechtsweges immer größer. Und die Neigung zu pauschalen Ablehnungen ist jetzt schon recht ausgeprägt. Es entwickelt sich die paradoxe Situation, daß wir das liberalste Zugangsrecht in Europa haben, aber die illiberalste Praxis bei der Anerkennung von Flüchtlingen. So sieht es jedenfalls der Leiter der Außenstelle des UN-Flüchtlingskommissars in Zirndorf.

Ihr Hauptbeweggrund für eine Verfassungsänderung wäre also die Rechtssicherung für die politischen Flüchtlinge?

Ich war lange Zeit gegen eine Änderung des Grundgesetzes. Aber ich sehe inzwischen, daß wir eine vernünftige Zuwanderungspolitik nicht erreichen können, wenn die Rechtslage unverändert bleibt. In wesentlichen Zielen sind wir uns ja in der SPD einig. Diejenigen, die eine Verfassungsänderung befürworten, wollen wie die Kritiker ein Paket: ein begrenztes Zuwanderungsrecht für Armutsflüchtlinge, einen sicheren und großzügigen Status für politisch Verfolgte, den vorübergehenden Schutz für Kriegs- und Notstandsflüchtlinge. Natürlich darf man auch meinen Vorschlag nicht auf die Verfassungsänderung einengen. Die darf nur ein Element sein.

Die guten Absichten sind die eine Sache, die Zeichen der Zeit die andere. Jetzt die Bereitschaft zur Verfassungsänderung zu signalisieren, heißt doch, dem Druck der Union, dem Druck der Straße nachzugeben.

Ja, das wird uns entgegengehalten. Ich nehme für mich in Anspruch, daß ich über diese Frage schon lange vor diesen schauerlichen Ereignissen nachdenke und nicht vor dem Druck der Straße zurückweiche. Daß es in der CDU, erst recht in der CSU, völlig unakzeptable Vorstellungen gibt, das steht auch fest. Aber die SPD hat auch einen Fehler gemacht. Sie hat diese Frage tabuisiert. Darüber durfte nicht geredet werden. Es hat sich eine merkwürdige Haltung entwickelt, bei der ich manchmal den Eindruck habe, es geht gar nicht um den Schutz der politisch Verfolgten, sondern um den Schutz von Artikel 16.

Wenn die SPD signalisiert, es könne noch in diesem Jahr zu einem gemeinsamen Ergebnis mit der Koalition kommen, dann liegt auf der Hand, daß es nur um den Artikel 16 und nicht um ein vernünftiges Zuwanderungspaket gehen kann.

Das wäre falsch, und ich verstehe die Signale der SPD auch nicht so. Das schlimmste, worauf die Parteien sich einlassen könnten, wäre ein weicher Konsens zur Grundgesetzänderung. Der könnte nur zwei Ergebnisse haben: Erstens bewirkt er nichts, zweitens nimmt ihn das Verfassungsgericht womöglich unter die Lupe und kippt den Kompromiß. Es wäre ganz schlecht, wenn Verfassungsfragen beliebig behandelt werden. Wozu haben wir denn die Verfassungskommission? Das wäre die angemessene Ebene.

Ihr Vorschlag deckt sich nicht ganz mit den Petersberger Thesen. Was erwarten Sie vom Parteitag der Sozialdemokraten im November?

Die Petersberger Formulierungen sind vielleicht in den Verfassungsfragen nicht ganz geglückt. Aber Engholms Tendenz ist ja zu sagen, wir wollen offen sein für eine Überprüfung. Und das will ich auch. Deshalb habe ich mich in meinem Unterbezirk für einen Antrag mit folgender Position plädiert: Wir sind für ein Gesamtkonzept zur Zuwanderung unter Einbeziehung der Möglichkeit einer Verfassungsänderung. Wir haben nicht festgelegt, wie sie sein soll oder nicht. Wir öffnen uns dieser Frage.

Was auf dem Parteitag herauskommen kann, ist ein Auftrag an die Parteiführung, über ein Zuwanderungskonzept zu verhandeln unter Einschluß der Grundgesetzänderung. Die SPD kann natürlich über die Verfassung nicht allein beschließen, sie muß mit der Union reden. Die Verfassung formuliert den Konsens der Gesellschaft, und wir müssen sehr besorgt sein, daß unser dieser Konsens nicht kaputtgeht.