Sanssouci: Vorschlag
■ Der jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee
Weniger bekannt als der riesige Friedhof draußen in Weißensee liegt, versteckt hinter einer langen Mauer, in der Schönhauser Allee der älteste, von völliger Zerstörung verschont gebliebene jüdische Friedhof Berlins. Rosemarie Köhler und Ulrich Kratz- Whan weisen auf diesen „guten Ort“, der vom Alexanderplatz aus gerade noch bequem zu Fuß zu erreichen ist, durch ein kompetentes und kenntnisreiches kleines Buch hin.
Wer sich für mehr interessiert als einen Spaziergang voller melancholischer Impressionen zwischen verfallenen, überwachsenen oder zerstörten Gräbern, kann in diesem Band einen Einblick in die Geschichte der Berliner Juden im 19. Jahrhundert gewinnen. „Hier liegen im Tode vereint, die im Leben gemeinsames Streben für Deutschlands Einheit und Freiheit verband.“ Diese Grabinschrift und die Namen der beiden Freunde wurden wie viele andere während des Nationalsozialismus entfernt. Nur mehr in dem Buch und nicht auf dem Friedhof selbst findet sich auch die Erinnerung an den radikalen 1848er Ludwig Bamberger, der in Deutschland hingerichtet werden sollte und lange Jahre im Pariser Exil lebte. Oder an seinen Freund, den Rechtsanwalt und liberalen Abgeordneten Eduard Lasker, der auf einer Reise 1884 in New York gestorben war und in Berlin nicht geehrt wurde.
Giacomo Meyerbeer und Max Liebermann sind die beiden großen Prominenten auf dem kleinen Friedhof, auf dem im Lauf von sechzig Jahren über 23.000 Berliner Juden bestattet wurden. In den fast dreihundert biographischen Artikeln häufen die Autoren nicht nur Daten an, sondern erzählen kurz und präzise auch Familien-, Sozial-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte. Von innerjüdischen Diskussionen bis zu den antisemitischen Hetzkampagnen, von Gelehrtenfleiß, Unternehmer- und Erfindergeist bis zur Chronique scandaleuse um einen Bankier – nüchtern und taktvoll wird hier ein Stück jüdischer Vergangenheit sichtbar gemacht. Unter den unauffälligen Grabsteinen trägt einer den Namen der Kaufmannsfamilie Borchardt, aus der der Schriftsteller Georg Hermsann hervorgegangen ist. Sein Roman Jettchen Gebert – die intimste und beste Studie über das jüdische Bürgertum in Berlin um 1840 – beginnt und endet auf diesem Friedhof in der Schönhauser Allee mit dem Wunsch, „keine Reste verkommen zu lassen“ und die Toten nicht zu vergessen. Dieser Autor hat, wie unzählige deportierte und ermordete Juden, kein Grab gefunden – in Berlin nicht und auch sonst nirgendwo. Horst-Hans Olbrich
R. Köhler/U. Kratz-Whan: „Der Jüdische Friedhof Schönhauser Allee“. 191 Seiten mit Abbildungen. Haude und Spener 1992.
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