: Bilder vom Dritten Geschlecht
Ein Interview mit der amerikanischen Fotografin Nan Goldin ■ Von Werner Köhler
Nan Goldin, die in Boston aufwuchs und seit 1978 in New York lebt, wurde in den frühen achtziger Jahren durch ihre Dia-Show »Die Ballade der sexuellen Abhängigkeit« bekannt. Es ist eine Art privates Fototagebuch, in dem sie die Beziehungen und Beziehungskämpfe zwischen Männern und Frauen, Transvestiten und Transsexuellen darstellt.
Ende 1991 ist sie vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) nach Berlin eingeladen worden und hat dort für für ein Jahr gearbeitet. Anläßlich einer abschließenden Ausstellung in der Berliner DAAD-Galerie erscheint jetzt ihr neues Buch „Die andere Seite: 1972-1992“ (Scalo-Verlag, 58 DM). Es schildert in sehr persönlicher Manier das Leben des »Dritten Geschlechts«, also der Transsexuellen und Transvestiten in Boston, New York, Paris, Manila, Bangkok und Berlin
Werner Köhler: Du lebst jetzt seit August 1991 in Berlin. Hast du in dieser Zeit die Schwulen- und Transvestitenszene in Berlin kennengelernt?
Nan Goldin: Ein bißchen. Ich habe ein paar Freunde hier, die schwul oder transsexuell sind. Aber ich gehe nicht mehr so oft aus.
Siehst du einen Unterschied zur Szene in New York?
Von meinen Eindrücken her gesehen, scheint mir hier in Berlin alles viel mehr voneinander abgeschottet zu sein. Es erinnert mich mehr an die siebziger Jahre, wo Schwule und Lesben beinahe völlig voneinander getrennt existierten. Es gibt wenig Wechselwirkung. In New York gibt es mehr politischen Aktivismus in der Schwulenszene, mehr Bewußtsein für Rassismus-Probleme, eine größere Aufmerksamkeit gegenüber Aids. Wenn ich höre, daß die Männer in den Lederkneipen hier keinen Safer-Sex mehr praktizieren würden, das ist wirklich unglaublich, das gäbe es in New York nicht.
Laß uns über dein neues Buch sprechen. Wann ist dir die Idee dazu gekommen?
Als ich 1986 „Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ gemacht habe, war es eine Art schmerzhafter Erfahrung für mich. Ich fühlte mich danach bloßgelegt und ausgeliefert. Ich konnte lange Zeit nicht in Buchläden gehen, wo mein Buch auslag, und hatte Angst, ein zweites Buch zu machen.
Es ist, wie wenn man einen erfolgreichen ersten Film macht. Die Leute erwarten etwas Großartiges. So machte ich mir viele Gedanken. Als ich von New York nach Berlin ging, hatte ich vier Verleger, die ein neues Buch mit mir machen wollten. Ich war ziemlich durcheinander und dachte, ich könnte mir in Berlin Klarheit darüber verschaffen, was ich tun sollte. Statt dessen habe ich das Buch nun mit dem Scalo-Verlag gemacht. Es entstand auch deswegen, weil der DAAD einen Katalog für meine Ausstellung haben wollte. Ich entschied, das Buch auf das Thema von Transvestiten und Transsexuellen zu begrenzen, weil es einen Aspekt meiner Arbeit betrifft, den ich seit den letzten zwei Jahren leidenschaftlich verfolge.
In dem Buch sind auch ältere Schwarzweißfotos aus den siebziger Jahren veröffentlicht, die eine spezielle Atmosphäre haben. Du fotografierst jetzt ausschließlich in Farbe. Warum?
Als ich anfing, Fotos zu machen, war ich 16 oder 17 Jahre alt. Ich habe vielleicht fünf Jahre in Schwarzweiß gearbeitet, seitdem nicht mehr. Schwarzweiß wirkt für mich surreal. In Farbe ist für mich alles viel lebendiger. Ich interessiere mich sehr für die Realität.
Deine Fotos wirken sehr spontan. Sind es wirklich Schnappschüsse oder inszenierst du die Fotos?
Nein, ich inszeniere überhaupt nichts. Ich denke mir überhaupt nichts vorher aus. Dazu besitze ich gar nicht die Phantasie. Meine Stärke als Künstlerin liegt darin, offen zu sein für das, was gerade passiert – nicht darin, Dinge aufzustellen, jemanden zu dirigieren oder etwas auszuschmücken. Das Leben ist schon unglaublich genug.
Du benutzt auch keine Modelle?
Niemals. Ich muß eine wirkliche Beziehung zu den Leuten haben, die ich fotografiere. Wenn ich keine solche Beziehung aufbauen kann, komme ich nicht weit. Die ersten Personen, die ich fotografiert habe, habe ich schon jahrelang gekannt und mit ihnen zusammengelebt. Manche fotografiere ich seit 15 Jahren. David zum Beispiel seit 20 Jahren. Leute, die ich nicht schon vorher kannte, habe ich jetzt zum ersten Mal in Asien für das neue Buch fotografiert.
Wie kam es dazu?
Es fiel mir anfangs schwer, in Berlin zu arbeiten. Im ersten Monat habe ich leere Räume fotografiert. Dann wollte ich Fotos von Prostituierten machen, aber es ist nicht meine Art, fremde Leute zu fotografieren. Dann traf ich Jürgen Brüning, einen unabhängigen Dokumentarfilmer und Produzenten, der hier in Berlin arbeitet. Er erzählte mir, daß er nach Asien ginge, um in Manila und Bangkok einen Film über Prostitution und Homosexualität zu drehen. Er nahm mich in seine Crew auf und hat meine Fotos mit in seinem Film verarbeitet. Er kommt unter dem Titel „Maybe I Can Give You Sex“ heraus.
Wie arbeitest du mit den Leuten, die Du fotografierst? Hast du immer die Kamera dabei?
Ja, immer. Für ein Bild verschieße ich eine Menge Film. Ich fotografiere einfach, was passiert, und schaffe erst einmal Tatsachen. Erst später wähle ich aus, was ich gebrauchen kann. Die Menschen, die mit mir zusammenleben, sind es gewohnt, dauernd von mir fotografiert zu werden. Wenn ich jemanden fotografiere, verliert er nach einiger Zeit das Gefühl, daß er sich schützen oder verstecken müßte. Und als meine Freunde wissen sie auch, daß sie das Recht haben, zu verbieten, daß die Bilder benutzt werden. Ich denke, daß die Leute erst einmal posieren, um eine Art von Macht in der Beziehung zum Fotografen zu empfinden, um eine Art Kontrolle in diese Beziehung zu bringen. Wenn sie dann sehen, daß sie die Kontrolle auch auf andere Weise gewinnen können, brauchen sie nicht mehr zu posieren.
Es gab vor kurzem in der Galerie Redman in Berlin eine Ausstellung von Ed und Nancy Kienholz zu sehen. Sie haben Kinder in der Dritten Welt fotografiert. Die Art, so herumzureisen, Kinder zu fotografieren und daraus Kunst zu machen, erschien mir etwas fragwürdig.
In Manila ging ich oft in den Park und fotografierte dort die Kinderprostitution. Anfangs posierten die Kinder enorm viel. Sie stellten sich in ihrer ganzen Ausstaffierung vor mir auf, und die Fotos wurden fürchterlich. Dann schenkte ich ihnen ein paar Fotos. Das war etwas Besonderes für sie. Es gibt nicht viele Leute, die etwas umsonst für sie tun und nichts von ihnen zurück haben wollen. So fingen sie an, die Situation nicht mehr so zu kontrollieren und hörten mit all dem Posieren auf. Für die Kinder, die Prostituierten, war es wie eine Droge, fotografiert zu werden. Sie schrien immer: »Shoot me, shoot me.« Sie kämpften richtig darum.
Ich lehre in New York und sage den Leuten immer, daß ich dagegen bin, von Amerika oder Europa aus in die Dritte Welt zu gehen, um zu fotografieren. Die Leute dort haben grundsätzlich meist nicht die Macht, »Nein« zu sagen. Für mich war es das erste Mal, daß ich nach Asien gegangen bin, und ich hatte auch tatsächlich Schuldgefühle. Aber ich denke, daß man den Kindern und Erwachsenen das Gefühl geben kann, wirklich wichtig und etwas Einzigartiges zu sein. Das ist viel wert. Für mich war es interessant, mit diesen moralischen Fragen umgehen zu müssen. Wenn man in New York ist, ist es leicht, dagegen zu predigen, aber wenn man dann dort ist, ist es etwas anderes.
Was sind deine Auswahlkritieren für ein gutes Foto?
Ich weiß nicht, wie man das erklären kann. Wenn ich ein Bild sehe, das funktioniert, kriege ich diese Art von Gefühl, wie wenn man Drogen nimmt. Es kriegt so ein Funkeln. Ich fühle es mit meinem Körper, wenn alles zusammen stimmt. Manchmal versuche ich, dieses Gefühl zu erzwingen und ich sage: »Oh, das ist gut, das ist gut.« Aber auf diese Art läuft das nicht. Wenn es wirklich gut ist, kriege ich diese Art von Funkeln. Manche Bilder geben mir das, manche nicht.
Was planst du Neues?
Ich habe ein paar neue Buchprojekte. Mit Joachim Sartorius möchte ich ein Buch mit Gedichten und mit den leeren Räumen, die ich fotografiert habe, machen. Es wird Empty Rooms heißen. Ein anderes wird vielleicht eine Art Fortsetzung meines Tagebuchs von 1986 bis 1992 sein, mit den Personen, mit denen ich die „Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ gemacht habe.
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