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Opfer oder weibliches Subjekt?

Zwei deutschsprachige Neuerscheinungen über Artemisia Gentileschi  ■ Von Sissi Banos

Die italienische Barockmalerin Artemisia Gentileschi (1593 bis 1653) scheint sich mit der ersten monographischen Ausstellung ihres Werkes in Florenz im letzten Jahr endgültig ihren Platz in der Kunstgeschichte gesichert zu haben. Bis vor nicht allzu langer Zeit noch hatte sich das Interesse weniger auf ihre Kunst als auf das Spektakuläre ihrer Lebensgeschichte konzentriert.

Zur diesjährigen Buchmesse kamen nun als deutschsprachige Erstausgaben zwei sehr unterschiedliche und zugleich einander ergänzende Bände über die italienische Malerin heraus: „Die Vergewaltigung der Artemisia. Der Prozeß“, herausgegeben von Christa Wachenfeld, und der Roman „Artemisia“ (italienische Erstausgabe 1947) der italienischen Schriftstellerin Anna Banti.

„Die Vergewaltigung der Artemisia. Der Prozeß“ enthält die Akten des Vergewaltigungsprozesses aus dem Jahre 1612, dessen Opfer Artemisia Gentileschi war. Die gegenüber früheren italienisch- und französischsprachigen Ausgaben vervollständigten Prozeßakten ermöglichen einen umfassenden Eindruck von der Zeit und ihren Moralvorstellungen. Zugleich sind sie, wie Christa Wachenfeld im Vorwort unterstreicht, ein Dokument dafür, daß Vergewaltigung im patriarchalischen Recht als eine Verletzung der männlichen Eigentumsrechte behandelt wird und das Opfer als die Täterin erscheint. Der Ruf eines zweifelhaften Lebenswandels und ausschweifenden Liebeslebens hat das Bild Artemisias bis in unser Jahrhundert bestimmt.

Die Herausgeberin gibt darüber hinaus einen Überblick über Leben und Werk der Gentileschi unter Einbeziehung des neuesten Forschungsstandes. In differenzierter Darstellung werden Klischees, die das Werk der Malerin auf „die Kunst der Inszenierung von dramatischen Männermorden“ zu reduzieren suchen, dementiert und ihr Gesamtwerk als Absage an die weibliche Opferrolle, als Spiegel des Lebensentwurfs der Malerin, als Grenzüberschreitung und Aufbruch gezeichnet.

Schmuckstück des Bandes ist der 1979 in einem Ausstellungskatalog erschienene Essay von Roland Barthes „Zwei Frauen“ über Artemisias berühmtestes Gemälde „Judith enthauptet Holofernes“. Frühere Abhandlungen hatten es vor allem als persönlichen Racheakt für die Vergewaltigung interpretiert, was der Wiederentdecker der Gentileschi, der italienische Kunsthistoriker Roberto Longhi, mit den Worten kommentierte: „Eine Frau hat das Ganze gemalt? Das muß ja eine schreckliche Frau sein: Wir flehen um Gnade.“ Barthes betont in seiner Interpretation vor allem die „abrupte Umkehr der Rollen“, die, verbunden mit dem „Genieschlag [...], zwei Frauen und nicht eine allein in das Bild zu bringen“, das religiöse und patriotische Pathos der Szene überlagert. Barthes: „Dieses Gemälde, so klar, so kraftvoll, enthält [...] alle figurativen Merkmale eines Romans: Seine Schönheit liegt darin, daß es teilhat an einer Art ,literarischer‘ Energie.“

Durch die Publikation des Romans „Artemisia“ von Anna Banti (1895 bis 1985; Pseudonym von Lucia Lopresti) wird nun endlich auch das deutschsprachige Publikum mit einer Schriftstellerin bekannt gemacht, deren gesamtes Werk – so die Literaturkritikerin Anna Nozzoli – sich geradezu als „besessene Reise zur Wiederentdeckung der weiblichen Welt“ lesen läßt. Zu Lebzeiten galt sie als die aristokratische „Grande Dame de Lettre“ Italiens. Mit der – neuen – Frauenbewegung lag sie in Fehde und bezichtigte diese wegen der Erstveröffentlichung der Prozeßakten Artemisias des Voyeurismus. Hinter diesem barschen Urteil stand allerdings wohl auch die Sorge der Kunsthistorikerin Anna Banti, daß es noch lange dauern werde, bis das Werk der Malerin genauso bekannt wäre wie der Vergewaltigungsprozeß.

Der Roman über Leben und Werk der Gentileschi hatte bereits in den vierziger Jahren wegen seiner Entstehungsgeschichte und deren Thematisierung als „Roman im Roman“ Aufsehen erregt. Er erscheint als eine schwer einzuordnende Mischung aus historischem Roman, Biographie und Autobiographie: Das erste Manuskript wurde 1944 beim Abzug der deutschen Truppen aus Florenz vernichtet. Im rekonstruierten Roman wird Artemisia zur Gefährtin auf den Ruinen, die sich vehement in die Wiedererweckung ihrer Biographie einmischt. Die daraus entstehende Vermischung der Erzähl- und Zeitebenen, verbunden mit den Selbstreflexionen der Erzählerin, machen den Zugang anfänglich nicht leicht, doch die Mühe lohnt: Sie wird nicht nur durch die Erzählung der Entstehungsgeschichte des Judith-Gemäldes aufgewogen oder durch die Schilderung des Aufenthaltes der Malerin in Neapel und ihrer Reise nach England, die Artemisia als alleinstehende Frau 1638 wagte und die an die schönsten Szenen des/r Woolfschen „Orlando“ erinnert. Zugleich wird es immer spannender, sich auf den Rekonstruktionsvorgang selbst einzulassen, auf dieses „verkrampfte Spiel zweier schiffbrüchiger Frauen, die die Hoffnung nicht aufgeben wollen, sich auf einem Faß zu retten“, wie die Autorin ironisch vermerkt.

Aufbauend auf den Prozeßakten und den wenigen gesicherten biographischen Daten läßt Banti in teils heftigem Disput zwischen Protagonistin und Erzählerin ein Bild der Künstlerin in ihren Konflikten und Widersprüchen entstehen: Artemisia, die Stolze und Anmaßende. Artemisia, die um die Rettung ihres Rufes kämpft und der Opferrolle entfliehen will. Artemisia als freie Frau und Künstlerin und in ihrer Einsamkeit als verlassene Ehefrau, Mutter und Tochter. Artemisia in der Ablehnung jeglichen „Weibchen“-Verhaltens und ihrer vergeblichen Suche nach weiblicher Solidarität. „Wir sind so wenige und so bedroht, daß wir es nicht mehr verstehen, einander anzuerkennen und zu begreifen oder wenigstens so zu achten, wie ihr euch achtet. Zum Spaß laßt ihr uns frei, aber in einem Arsenal voll giftiger Waffen“, ruft Artemisia ihren neapolitanischen Verehrern zu.

„Artemisia“ ist nicht nur ein Sitten-„Gemälde“ des Barock, in dem das kunsthistorische Wissen der Autorin zur Geltung kommt. Der Roman wird zugleich zum Sittenbild einer durch den Männlichkeits- und Weiblichkeitsmythos gespaltenen Welt und zeigt die Stereotypen der Geschlechterrollen, die die Entstehung von Frau als Subjekt tout court verhindern. Dies reflektiert Banti auch im Hinblick auf ihre literarische Figur: „Ich habe sie dazu verleitet, sich zu den Gesten einer alleinstehenden, unvollkommenen Mutter zu bekennen, einer Malerin zweifelhafter Qualität, einer stolzen, aber schwachen Frau, einer Frau, die ein Mann sein möchte, um sich selbst zu entfliehen. [...] Eine um dreihundert Jahre reichere Erfahrung hat mich nicht gelehrt, eine Gefährtin von ihren menschlichen Irrtümern zu lösen und eine ideale Freiheit für sie zu entwerfen.“ Das Fazit: „Sie ist [...] keine Heldin und keine Heilige und nicht einmal Kurtisane: auch wenn das, was behauptet wird, wahr wäre.“

„Artemisia“ wird zur Metapher der Situation des Weiblichen, die durch ein „Zugleich von Opulenz im Feld des Symbolischen und Absenz im geschichtlichen Raum“ (Silvia Bovenschen) gekennzeichnet ist. Das Spiel von Distanz und Nähe zwischen erzählendem und erzähltem „Subjekt“ läßt den Roman jedoch auch als einen Prototyp des „weiblichen Schreibmusters der Doppelbiographie“ erscheinen. Artemisia wirft sich einer „verwandten Seele entgegen, die allein es verstehen würde, sie zu beweinen“, und wird für diese selbst zum Spiegel und Vorbild: Artemisia als eine „der ersten Frauen, die sich mit Worten und Werken das Recht auf kongeniale Arbeit und geistige Gleichheit der Geschlechter erkämpften“, wie die Autorin im Vorwort vermerkt, und deren Roman-Biographie für Anna Banti ein erster Schritt auf der Suche nach einer ihr gemäßen Arbeit und Selbstbehauptung war. Artemisia als Nonkonformistin, in ihrer Sehnsucht nach solidarischen Beziehungen unter Frauen. Artemisia wird für Anna Banti zum Symbol der – weiblichen – Freiheit, die sie ihr mit dem Roman zu geben versucht.

Schade nur, daß sich in der Veröffentlichung des Kore-Verlags kein Hinweis auf Anna Banti findet. Sie ist es wert, in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit ebenfalls entdeckt zu werden.

„Die Vergewaltigung der Artemisia. Der Prozeß“. Mit einem Text von Roland Barthes. Herausgegeben von Christa Wachenfeld. Große Kore, Freiburg 1992, 200 Seiten, 30DM.

Anna Banti: „Artemisia“. Roman. Aus dem Italienischen von Sylvia Höfer. List Verlag, München- Leipzig 1992, 240 Seiten, 34DM.

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