: Masurische Herzschläge
Völlig unerwartet kommt einem Masuren vertraut vor — wenn auch nicht im Sinne trotziger Ostpreußen: Zunächst ist es der Herzschlag, sind es die Geräusche und Gerüche, die Erinnerungen hervorrufen an die vertraute dörfliche Bescheidenheit der fünfziger Jahre. Aber auch die deutsche Prägung dieses Landstrichs im Nordosten Polens holt einen immer wieder ein; denn der Geist jener spätfeudalen Herrlichkeit atmet weiter – auf den Dachböden Masurens. ■ Von Henk Raijer und Gunda Schwantje
Gelassen steht der Landmann ans Pferdefuhrwerk gelehnt. Er beachtet uns nicht, schweigt, pafft eine Papierosy, zwei. Geduldig wartet auch seine Stute, unter den Eichen vor der mächtigen Dorfkirche. Die gleißende Septembersonne blinzelt durch das dichte Grün, blendet mal den Mann, versilbert mal die mattglänzenden Milchkannen hinter dem Kutschbock. Das Knarren der schweren Holztür kündigt das Ende der Frühmesse an, Hochwürden entläßt seine Gläubigen, fünfzehn an der Zahl. Der Pfarrer führt eine gebrechliche Bäuerin zum Wagen, gemeinsam mit dem Kutscher hievt er sie auf den Sitz. Kaum hat der junge Mann neben der Alten auf dem Bock Platz genommen, setzt sich die Stute wie selbstverständlich in Bewegung, sie weiß den Weg, braucht keinerlei Führung. Ein leichter Westwind trägt vielstimmiges Glockengeläut aus der Stadt herüber, auch Olsztyn ist aufgewacht.
Alles beherrschend die schnurgerade Allee, unaufhörlich rauf und runter, flankiert von vielhundertjährigen knorpeligen Eichen, die uns Spalier stehen. Auf der schmalen Nebenstrecke zwischen Silice und Grzegotzki sind trotz des heiligen Sonntags in aller Herrgottsfrühe schon die Mähdrescher unterwegs. Sie können gerade mal passieren, wie Kränze schließen sich die Äste auf beiden Seiten des Asphalts über den Maschinen zusammen. Fahrt vermindern die Piloten, hoch oben auf ihrem unförmigen Stahlroß, nur, um die in Naturstein eingefaßten Marienbilder am Wegesrand nicht zu rammen. Immer wieder müssen wir winzigen Radfahrer weichen, um den Monstren die Vorfahrt zu lassen. Weizen, Hafer, Gerste; so weit das Auge reicht: ein endloses Meer wogender Ähren.
Hochamt in Pasym, in der Kirche aus tiefrotem Backstein. Sonntagsruhe. Dann plötzlich füllt sich der Platz, Mädchen in Spitzenkleidchen, Jungen in graublauen Erwachsenen-Anzügen mit „Hochwasser“. Wahrscheinlich wie immer. Nur eines ist anders an diesem Tag: die alten Männer, fast ausnahmslos tragen sie eine rot- weiße Armbinde. Orden aus Blech und Fähnchen in den Nationalfarben schmücken ihr Jackett. Kaum eine Chance, ihre abweisende Zurückhaltung aufzubrechen. Gnade der späten Geburt? Schließlich unverdächtig: Ach, aus Holland sind Sie? Ja, der Kohl aus Deutschland habe die Westgrenze letztlich anerkannt. Aber das könne den 1. September auch nicht mehr rückgängig machen.
Masuren – das sind nicht nur Hunderte naturbelassener, sauberer Seen. Masuren ist wie eine Reise in die eigene Kindheit, ein Zurückgeworfensein in die Vergangenheit – wenn auch nicht im Sinne trotziger Ostpreußen. Völlig unerwartet kommt uns dieses Masuren so vertraut vor, daß es uns seltsam anrührt – sind wir doch vorher nie in Polen gewesen. In Masuren geht die Fortschrittsuhr anders, scheint stehengeblieben vor Jahrzehnten. Kindheitsmuster. Es ist die Geschwindigkeit, es sind die Geräusche und Gerüche, die Erinnerungen hervorrufen an die vertraute dörfliche Bescheidenheit der fünfziger Jahre. Der Herzschlag Masurens zieht uns in seinen Bann.
Das rostige Tor ist unverschlossen, die Sonne hat keinen Zutritt, zu wild der Wuchs der alten Stämme: Auf dem Friedhof vor Marksewo liegen die kaiserlichen Helden von 70/71, „ruhen im Herrn“ der Lehrer Lechleitner und seine Gemahlin, gestorben 1904 bzw. 1907. Hinten in der Ecke trauern Angehörige um Franz und Amelie Paulinski – im Februar 1945 fanden beide, kaum 25jährig, einen gewaltsamen Tod. Die Steine sind bemoost, die Buchstaben abgebröckelt. Auf dem „deutschen“ Friedhof von Marksewo pflegt keiner Gräber, wer sollte das übernehmen? Spurensuche?
Das Deutsche an Masuren, am ehemaligen Ostpreußen, ist für uns, die wir gekommen sind, um radzufahren, eher zweitrangig – wenn auch überall präsent. Nein, zunächst ist da die Reise in die fremde Nähe. Da ist der Vorgarten jener ärmlichen Bauernkate in Nowa Kiejkuty, mit seinem bunten Urwucher aus Sonnenblumen, Fingerhut und Dahlien, mit seinen gelb, weiß und rot leuchtenden Gladiolen. Dieses üppige Geranke einfacher Blumen, das aus unseren quadratierten und kunstvoll mit Züchtungen ausgeschmückten Gartenarrangements längst verbannt wurde. Da ist auch das buntgemischte Federvieh in Powalczyn, das ungestört auf dem aufgetürmten Misthaufen hinterm Haus umherstolziert. Oder, in Kielbonki am Straßenrand: die Holzgerüste für die 30-Liter-Milchkannen, in Utka die dickliche Großmutter mit gemusterter Schürze und Kopftuch, die ein Huhn rupft, während sie ein Auge auf die vielleicht drei Jahre alten Zwillinge am Dorfteich hat. Oder der Feierabend nach einem heißen Erntetag in Wejsuny: Ein Holzfuhrwerk rumpelt über das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße, parkt vor dem flachen Schuppen, der bis unters Dach mit Bierkästen vollgestopft ist. Ein kurzer Plausch, fünf Bier, das Fahrrad des Nachbarn wird hinten draufgepackt – bleibt noch Zeit zum Klönen. Die Alten haben, kurz vor Sonnenuntergang, auf der Bank vor der Haustür Platz genommen, das mannigfache Kindergeschrei in den Häusern verstummt allmählich, die größeren rauchen heimlich hinterm Misthaufen. Hunde schlagen an, als drei Erntearbeiter am Bierstand laut lachen, dann lostorkeln, Arm in Arm, in die Dunkelheit, sich gegenseitig auf die Schulter klopfend.
Schon Nikolaiken galt als Sommerfrische – in der deutschen Zeit. Mikolajki, wie die Stadt am Sniardwy-See, dem größten masurischen See, heute heißt, hat viel von seinem Vorkriegsflair eingebüßt; zu groß waren die Verwüstungen, die der Ort hat hinnehmen müssen. An diesem Tag begegnen wir zum ersten Mal auf unserer Tour über Nebenstraßen und Feldwege touristischer Infrastruktur. Und sogleich verblaßt die Einzigartigkeit Masurens – durch die Geschäftigkeit, die hier herrscht. In Mikolajki herrscht eine merkwürdige Spannung zwischen Tradition und Moderne, zwischen den protzigen Motorbooten im Hafen, den unbekümmerten Jugendlichen aus der Warschauer Mittelschicht in ihren Spaß-T-Shirts und der beklemmenden Atmosphäre hinter den Kulissen: Hier stehen kaputtgeschossene Bürgerhäuser mit abgeblättertem Putz gleich neben realsozialistischem Plattenbau und standardisierten Einkaufsläden. Intensiver Autoverkehr auf engstem Raum, aus den Auspuffrohren der Trabis und Polski-Fiats ein Gemisch, daß es uns die Luft abschneidet – so sehr sind wir schon entwöhnt. Frauen und Männer mit abgearbeiteten Gesichtern schleppen Tüten über die Fußgängerbrücke, Tüten mit Weißbrot, Zigaretten und Alkohol. Hinter der fröhlichen Fassade des Ferienorts atmet die Stadt Sorge, polnischen Schwermut. In seinen Städten verglimmt der Zauber Masurens.
Unsere Versorgung gerät zur Aufgabe. Das Sortiment der schnörkellosen Lebensmittelläden, so es welche gibt in den Straßendörfern, die wir passieren, ist bescheiden. In ihren Regalen finden sich Mehl, Streichhölzer, Spülmittel, Klopapier, Seife und Dosensuppen. Brot backen die Leute selbst, Kartoffeln und Gemüse wachsen im Garten, Fleisch läuft auf dem Hof frei herum, und Milch gibt's beim Bauern nebenan. Restaurants finden sich nur in den größeren Ortschaften. Um Nahrungsmittel muß man sich schon bemühen, unsere warme Mahlzeit nehmen wir ein, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet, und sei es morgens um acht.
Was hier gänzlich fehlt, ist die Allgegenwart des Verdienenwollens: kein schrilles Neonlicht, keine schreienden Reklamewände, die sich überall und ungefragt aufdrängen, latente Irritation hervorrufend. Folglich fragt keiner nach Geld, wenn wir uns einen Platz für die Nacht suchen, einfach nur irgendwo, wo's schön ist, am naturbelassenen Ufer eines der vielen hundert Seen, an Stellen, an die man eigentlich nur vom Wasser aus herankommt, denn an der Straße gibt es keine Hinweisschilder auf „Biwaks“. Das Bedürfnis, draußen zu sein, auch nachts, an schlichten Plätzen zu kampieren, Feuer zu machen, hat Raum in Masuren, ist mitgedacht.
Vergessen geglaubte Bilder, sie gehören zum Alltag: Noch hat der Traktor das Pferd nicht verdrängt, mit der Forke stecken die schwitzenden Männer schwere Strohballen hoch, stämmige Frauen wuchten sie sachkundig in die richtige Position – dann und wann ein forschender Blick zum Himmel. Kräftige Ackergäule, im Zweiergespann vor dem Stahlpflug, ziehen lange Furchen, umbrechen die satte Erde. Mensch und Tier – beiden ist die Mühsal, die harte Arbeit anzusehen.
Auf dem Feldweg nach Chmielewo immer wieder verlassene Katen. Am Zaun eines jener Höfe steht auf einem schief hängenden Brett ein Name: Jerzy Grocwocki. Aber kein vom Schmutz ergrauter Mischling schlägt an, als wir die verwilderten Sonnenblumen beiseite schieben. Die Bewohner sind fort, möglicherweise in die Stadt oder erneut Richtung Westen, wie schon nach dem ersten und später nach dem zweiten Krieg der Deutschen, als Leute wie die Grocwockis hunderttausendfach ihr angestammtes Land hatten verlassen müssen; den Trecks der Ostpreußen, auf der Flucht nach Westen, waren die Trecks der Polen gefolgt, unerwünscht in ihrer Heimat, die plötzlich – nach Jalta – Sowjetunion hieß. Gras ist gewachsen, der liegengelassene Strohwender wirkt wie ein Fremdkörper in dem üppigen Wuchern der Dornen, Disteln und Brennesseln. Spuren.
Stynort ist heute, wie vormals Steinort, kein Dorf, Stynort ist der Gutshof. Spätsommerliche Mittagshitze. Ein vom Regen verwaschener Lech Walesa bleicht am Gemäuer der riesigen Stallung dahin, unwirkliche Stille: kein Mensch läßt sich blicken, keine Katzen, keine Pferde. Der Mähbalken auf dem Sandplatz inmitten der Wirtschaftsgebäude – eher ein Stilleben. Wäre da nicht die bedrückende Spannung zwischen den mächtigen Stallungen – gut in Schuß und mit Bedacht gewartet – und dem herrschaftlichen Wohnhaus aus einer anderen Zeit, wir Fortsetzung nächste Seite
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könnten unserer Wege gehen. Das Ocker seiner Fassaden ist verblichen, die Fensterscheiben sind taub, zersprungen, sämtliche Türen vernagelt. Da wo Einblick möglich ist: Plünderung, Zerstörung, wissentliche Verwesung. Nur der weiße Kachelofen in der Küche scheint dieser Art von Vergangenheitsbewältigung getrotzt zu haben. Spurensuche.
Sechs gußeiserne Pfähle, welche die Auffahrt zum Schloß markieren, legen Zeugnis ab, daß die Geschichte Stynorts vor 45 begonnen hat. Erzählen, daß jeder Versuch, die vorpolnische Zeit durch Beschweigen zu tilgen, scheitern muß: auf jedem einzelnen eine unauffällige Signatur Anno 1735, die untrüglich die herrschaftliche Präsenz deutscher Gutsbesitzer belegt.
Über 500 Jahre hatten die Lehndorffs in Steinort ihre Heimat; 25.000 Morgen umfaßte der Familienbesitz vor dem Eintreffen der Roten Armee. „Es gab viele schöne Besitze in Ostpreußen“, schreibt die Chronistin Marion Gräfin Dönhoff, in ihren jungen Jahren oft zu Gast in Steinort, „aber kaum einen zweiten in so unberührter, großartiger Landschaft.“ Dem staatssozialistischen Bezirkschronisten war lediglich die „antifaschistische Heldentat“ des letzten Gutserben einen Verweis auf die deutsche Geschichte Stynorts wert: Heinrich Lehndorff wurde seine Beteiligung am Attentat vom 20. Juli auf der ganz in der Nähe gelegenen „Wolfsschanze“, dem Führerbunker in den Wäldern von Görlitz, zum Verhängnis. Dennoch atmet er weiter, der Geist jener halbzerschossenen Städte und spätfeudalen Gutshöfe – auf den Dachböden Masurens. Heute ist Gras gewachsen – über die zwei Dutzend von den Nazis bei ihrer Flucht gesprengten Bunker im Wald von Gierloz. Wie auch Gras den Rosengarten von Schloß Steinort überwuchert hat.
Der erste Herbststurm ist da, nichts vermag ihn aufzuhalten in diesem Landstrich. So verzichten wir diesmal auf das allmorgendliche Bad im See und verlassen unser idyllisches Biwak inmitten der weißgrünen Birkengruppe am Ausläufer des Mamry-Sees. Ein Fischreiherpärchen schwebt aus dem Schilf empor, aufgeschreckt durch das Klabastern zweier Pferde auf der schmalen Brücke über den Kanal, der den Mamry- mit dem Dargin-See verbindet. Kurz vor Harsz winkt uns ein Mann zu sich heran; wild gestikulierend steht er auf dem Bock seines Pferdewagens, hintendrauf liegt eine Jagdflinte achtlos an den leblosen Körper eines Wildschweins gelehnt. Marek redet eine ganze Menge, ein breites Lachen, als er bemerkt, daß wir das meiste nicht verstehen. Zu ihm nach Hause, zu Muttern, soviel ist klar.
Am großen Tisch bei den Piaseckis gibt es dann erst mal vom Selbstgebrannten. Mehr als drei schaffen wir nicht, so kurz nach dem Frühstück. Die Verständigung gerät bald ins Stocken. Doch die Herzlichkeit, die Gastfreundschaft entschädigt für das Bedauern, daß wir fremd geblieben sind. Immerhin, der neue Nachbar, er hat ein Gesicht bekommen. Eine schwielige Hand und ein Handkuß zum Abschied.
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