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■ Der Versuch, Manfred Stolpe die Illegitimität seiner Vergangenheit nachzuweisen, ist gescheitertGlaubenskrieg um ein Chamäleon

Neues aus Potsdam: Kennen Sie schon die Theorie des Kontingentausgleichs? – Sie besagt in etwa folgendes: eine staatliche Institution der ehemaligen DDR, sagen wir das Ministerium für Staatssicherheit, hilft einer anderen, sagen wir dem Staatssekretariat für Kirchenfragen, mit einer Verdienstmedaille aus, weil dessen Planvorgabe in Sachen Orden bereits erfüllt, das Kontingent erschöpft ist. Während die Auszeichnung selbst auf Initiative des Staatssekretariats vorgenommen wird, vollzieht sich der gesamte, nicht unerhebliche Schriftverkehr – Beantragung, Genehmigung, Quittierung von Orden, Urkunde und Prämie – unter der Regie des MfS. So könnte der Aktenvorgang – isoliert betrachtet – leicht suggerieren, hier sei ein um das Ministerium für Staatssicherheit verdienter Genosse ausgezeichnet worden. Um diesen Kurzschluß zu vermeiden, bedarf es der genauen Kenntnis des wirklichen Lebens in der früheren DDR, mithin auch der Kenntnis der Theorie des Kontingentausgleichs. Worin die zeitgeschichtliche Bedeutung der Kontingenttheorie besteht? Mit ihrer Hilfe hält sich ein bundesdeutscher Ministerpräsident im Amt.

Es gibt viele Gründe, die Stolpe- Debatte in der jetzigen Form einzustellen. Einer davon entspringt dem schlichten Bedürfnis, nicht länger mit derart grotesken Auslassungen behelligt zu werden, wie sie jüngst Ex-Stasi-Oberst Wiegand dem Potsdamer Untersuchungsausschuß vorgetragen hat. Während die Stolpe-Kritiker mit geradezu kriminalistischer Akribie noch immer den Beweis führen wollen, daß Stolpe nichts anderes als ein Stasi-Agent war, finden und erfinden seine Verteidiger immer abstrusere Erklärungen, um den Verdacht abzuwehren.

War Stolpe ein Mann der Stasi oder der Kirche? So lautet seit nunmehr fast einem Jahr die Alternative. Daß sie sich am Ende klar entscheiden ließe, daran allerdings glauben nur noch die hartgesottensten Vertreter beider Lager. Die Frage, so scheint es, ist falsch gestellt.

Immerhin, als Faktum darf mittlerweile gelten, daß Manfred Stolpe über einen Zeitraum von dreißig Jahren mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet hat. Er hat mit den Mielke-Leuten kirchliche Personalfragen erörtert, über innerkirchliche Diskussionen und Entscheidungsprozesse informiert oder seine Mißbilligung allzu radikaler kirchlicher Oppositioneller zu Protokoll gegeben. Gemessen an den sonst üblichen Kriterien, wäre Stolpe längst als Stasi- Mann überführt.

Wenn er sich bislang im Amt halten kann, so hängt das nur zum Teil mit der politischen Konstellation, seinem schier unglaublichen Durchhaltevermögen, seinem phänomenalen Medieninstinkt oder dem Rückhalt in der brandenburgischen Bevölkerung zusammen. Vielmehr steckt in der Tatsache, daß die Auseinandersetzung um Stolpe in der Schwebe bleibt, ein Hinweis auf den Charakter des Falles selbst. Jedenfalls gibt es – trotz der erdrückenden Beweislast, die für eine intensive Zusammenarbeit mit dem MfS spricht, eine ebenso beeindruckende Liste Stolpescher Erfolge, die mit den vordergründigen Interessen des Regimes schwerlich in Einklang zu bringen sind. Er hat Leuten zur Ausreise verholfen und Dissidenten in ihrer Arbeit unterstützt, er hat die Kirche für die Opposition offengehalten und diese zur – freilich kontrollierten – Auflehnung ermutigt.

Das alles paßt nur schwer ins Bild des Stasi-Agenten. Daran scheitern – zu Recht – die bisherigen Bemühungen um einen finalen Beweis. Noch Wiegands jüngste Potsdamer Entlastungsgroteske hat darin ihr Moment von Wahrheit: Sie verhindert die Reduktion Stolpes auf den banalen Stasi-Büttel. Was die erklärten Stolpe-Gegner als endlichen Erfolg ansehen dürften, Stolpes Sturz wegen erwiesener IM-Tätigkeit, wäre ein zwiespältiger, weil halbwahrer Beitrag zur Aufarbeitung.

Manfred Stolpe ist nicht von der Kirche zur Staatssicherheit gewechselt, er hat den Seitenwechsel dreißig Jahre lang zu seinem Prinzip erhoben: In der Sprache der Oppositionellen hat er mit der Opposition verhandelt, in der Sprache des Systems mit der Stasi. Er ist ausgewichen, hat gelabert, laviert und sich angeglichen. Er hat der Opposition mit der Reaktion des Staates gedroht und der Stasi damit, am Ende werde das Ganze – die Ausreiser, die Opposition, die Propaganda des Klassenfeindes – aus dem Ruder laufen, wenn er, wer anders, nicht moderierend eingreife. Immer hat er sich denen, die er instrumentalisieren, bewegen, benutzen wollte, als einer der ihren zu erkennen gegeben – und erkenntlich gezeigt, immer hat er sie mit ihren eigenen Interessen geködert. In seiner Kirche war für beide Platz. Deshalb fällt es derart schwer, ihn heute auf eine Dimension zu reduzieren.

Die wirklichen Ziele, die Stolpe derart verfolgte, erscheinen ebenso uneindeutig wie die Methode, derer er sich bediente. Vielleicht ist bei einem, der so virtuos die Balance zu halten versteht, damit auch schon der Zweck der Veranstaltung benannt: keine Eskalation – von beiden Seiten. Kein Zufall, daß er just in dem Moment aus der Geschichte der DDR verschwand, als die Eskalation nicht mehr zu stoppen, als nichts mehr zu moderieren war. Doch bis dahin war Stolpe kein bloßer Stasi-Helfer. Noch in der harschen Reaktion, mit der er das erste Gauck-Gutachten zurückwies, indem er dessen Maßstäbe als seiner Person unangemessen kritisierte, steckt neben Stolpe-typischer Arroganz ein Stück Wahrheit. Gauck argumentiert mit der Regel, Stolpe war die Ausnahme.

Er war ein Machtfaktor, dessen Einfluß gegenüber dem Regime daher rührte, daß er Einfluß auf die Quellen der Bedrohung hatte: die Opposition, die Ausreisewilligen, die Westmedien, die Westpolitiker. Um all das auf das Stasi-Raster zu bringen, bedürfte es einer ähnlich gezwungenen Geschichte wie der, die Wiegand jüngst vor dem Ausschuß zum besten gab. Weil Gegner und Befürworter für die Entweder-oder-Entscheidung kämpfen, werden die jeweils konträren, sperrigen Teile an Stolpes Vergangenheit ausgeblendet. Anstelle der noch immer spannenden Debatte über die Legitimität von Stolpes früherer Rolle ist die Auseinandersetzung auf die Frage zusammengeschnurrt, ob er das Stasi-Etikett verdient oder nicht.

Sein gutes Gewissen ist eine der Quellen von Stolpes atemberaubendem Stehvermögen. Entspannungspolitiker mit allen Mitteln, ist er nach wie vor von der Legitimität seines Handelns überzeugt. Der Zweck heiligt die Mittel, und der Schaden, den Stolpes Methode angerichtet hat, ist in der Tat schwer nachzuweisen. Daran ist auch Rainer Eppelmann vor dem Ausschuß gescheitert. Nach Argentinien jedenfalls wurde der Pfarrer niemals abgeschoben; statt dessen entwickelte er sich zu einem der prominentesten Vertreter der kirchlichen Opposition. Am Ende bleibt die schmerzliche Verletzung, daß Stolpe nicht nur mit ihm, sondern unerkannt auch mit der Stasi zusammensaß. Stolpe, das Chamäleon, sicher keine erste Adresse für eine offene, vertrauensvolle Freundschaft. Doch ein abschließendes Urteil über seine Rolle läßt sich daraus schwerlich konstruieren. Stolpes Politik wurde – anders als die konsequente oppositionelle Haltung – durch die historische Entwicklung nicht geadelt, sondern ins Zwielicht gerückt. Wäre die DDR 1989 nicht implodiert, sondern, wie es alle Beobachter damals erwarteten, auf den Gorbatschow-Kurs eines kontrollierten und zähen Rückzugs gezwungen worden, Stolpe hätte die zentrale Mittlerrolle im Übergangsprozeß gespielt. Seine Politik würde im Rückblick als historisch notwendig und erzwungenermaßen dubios erachtet. Niemand käme heute auf die Idee, ihn vor einen Untersuchungsausschuß zu stellen – niemand würde ihn heute als demokratischen Ministerpräsidenten akzeptieren. Wer als Geheimdiplomat über dreißig Jahre nach allen Seiten paktierte, kann nicht die neue Zeit repräsentieren. In diesem Argument bündelt sich die ganze Überzeugungskraft der Stolpe-Kritiker. Doch weil sie Stolpe die Legitimität seiner heutigen Position bestreiten, indem sie die Illegitimität seiner früheren Rolle zu beweisen suchen, gehen die Angriffe immer wieder ins Leere. Eher noch führt der Weg zu Stolpes Sturz über die Anerkennung seiner Verdienste als über die Dämonisierung seiner Vergangenheit. Statt ihn zum Stasi-Handlanger zu erklären, gelte es zu zeigen, daß er die Rolle, die ihn zum Stasi-Partner prädestinierte, auch als Ministerpräsident durchhält. Man muß ihn vor dem Ausschuß, vor den Kameras oder einer Bürgerversammlung lavieren, taktieren, dialogisieren sehen, um zu ahnen, wie er früher Politik gemacht hat. Im Grunde tue er, was er immer getan habe, hat Stolpe dem Spiegel-Reporter Jürgen Leinemann jüngst anvertraut. In der Kontinuität, nicht in der fehlenden Verpflichtungserklärung, liegt das Problem. Allemal ein lohnenderes Thema als die Sache mit der Verdienstmedaille. Matthias Geis

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