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Rumänien steht vor einem Hungerwinter

■ Die chaotische Privatisierung hat die Landwirtschaft zusammenbrechen lassen

Bukarest (taz) – „Bürger, die eine Wohnung mit Balkon besitzen, können diesen nutzen, um Tomaten anzupflanzen.“ So lautete eine der Empfehlungen der Projektgruppe Landwirtschaft an der Universität Klausenburg (Cluj), die im Auftrag des rumänischen Landwirtschaftsministeriums nach Lösungen für die Dauerkrise bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln suchen sollte.

Die Rumänen werden für solche wohlmeinenden Ratschläge im besten Falle ein wohlmeinendes Lächeln übrig haben. Denn um auf die Tomaten-Idee zu kommen, hätten Mitarbeiter besagter Studiengruppe ihre Forschungsgelder lediglich in eine Sightseeing-Tour durch eine beliebige rumänische Stadt investieren müssen. Während der hätten sie feststellen können, daß schon längst viele Rumänen zur Selbsthilfe geschritten sind. Da hütet ein Bahnwärter in der Stadt Arad neben seinem Häuschen Ziegen und läßt seine Gänse munter auf den Gleisen spazierengehen. Und im Zentrum der Hauptstadt Bukarest hört man von den Balkonen eleganter Jugendstilhäuser bisweilen Hühner gackern.

Ohne Improvisationsgeist wird die rumänische Bevölkerung auch weiterhin nicht auskommen können. Während noch im letzten Jahr die Ernte zum großen Teil auf den Feldern stehen blieb, weil sich nach Auflösung der Kooperativen niemand mehr für die Felder zuständig fühlte, gibt es in diesem Jahr kaum etwas, was zu ernten wäre: Im Frühjahr blieb mehr als ein Fünftel der Felder unbestellt, zudem wurde Rumänien von einer der verheerendsten Trockenperioden des Jahrhunderts heimgesucht.

Es herrscht nicht nur akuter Brot-, Zucker- und Speiseölmangel, auch die Tierzucht steht vor massiven Problemen, da auf dem einheimischen Markt nicht ausreichend Futtermittel beschafft werden können und gleichzeitig Geld für deren Import fehlt. Viele rumänische Zeitungskommentatoren fragen nun bestürzt, ob das Land neben einem weiteren Winter ohne warme Wohnungen auch noch einen Hungerwinter zu erwarten habe.

Die Krise der Landwirtschaft hat in Rumänien Tradition, obwohl das Land wegen seines günstigen Klimas und guter Böden theoretisch viermal so viele Menschen, wie die eigene Bevölkerung zählt, ernähren könnte. Während der Agrarreform 1918 bis 1921 wurden viele Bauern zwar vom feudalen Joch befreit, erhielten aber so wenig Land, daß ihre Erzeugnisse kaum zur eigenen Ernährung ausreichten. Auch unter der kommunistischen Herrschaft blieb der Agrarsektor ein Stiefkind der Planer; er wurde zugunsten einer völlig überdimensionierten Schwerindustrie vernachlässigt.

Nach dem Umsturz vom Dezember 1989 mündeten langwierige und halbherzige Reformversuche in ein Gesetz über die Privatisierung der Landwirtschaft, das im Februar 1991 verabschiedet wurde. Es sieht vor, alle Kooperativen aufzulösen und insgesamt 9,2 Millionen Hektar Land unter jenen 5,2 Millionen Personen aufzuteilen, deren Anträge auf Landrückgabe als rechtmäßig eingestuft worden sind. Zukünftige Landeigner erhalten mindestens 0,5 und höchstens 10 Hektar Boden und können zusätzlich bis zu 100 Hektar kaufen.

Das Parlament hatte zunächst 90 Tage angesetzt, um die Kooperativen aufzulösen und die Nutzflächen zu reprivatisieren, veranschlagte aber später ein Jahr für die Umgestaltung. „Selbst dabei war das Parlament noch sehr optimistisch“, kommentiert Gheorghe Muresan, Staatssekretär im rumänischen Landwirtschaftsministerium, und nennt die Probleme, die die Abgeordneten nicht einkalkuliert haben: Bürokratisch und langwierig ist nicht nur das Antrags-, sondern auch das Vermessungsverfahren. Etwa 15 Millionen Parzellen Nutzfläche müßten vermessen und in die Katasterämter eingetragen werden, bevor sie verteilt werden können – eine Prozedur, die Jahre in Anspruch nehmen würde. Deshalb wurde die Landverteilung in diesem Jahr mittels vorläufiger Vermessungen beschleunigt und nach den Angaben von Muresan zu über 80 Prozent abgeschlossen. Derzeit gebe es, so der Staatssekretär, etwa 4.000 private Landwirtschaftsvereine (Genossenschaften) und 11.000 Familienbetriebe, die durchschnittlich 475 Hektar bzw. 150 Hektar bewirtschafteten. Die hohe Anzahl von Privatgütern mit großer Fläche erklärt sich Muresan aus einem Passus des Privatisierungsgesetzes, nach dem gegen Landeigentümer, die ihre Flächen nicht bewirtschaften, empfindliche Geldstrafen verhängt werden können. Daher sind offenbar viele der etwa zwei Millionen sogenannten passiven Eigentümer gezwungen, ihr Land zu verkaufen.

Daß die schon unter Ceausescu verhaßten lokalen Agrarbürokraten die Privatisierung einerseits bewußt verzögert haben, andererseits bei der Landverteilung sich selbst die besten Stücke zuschanzten, will Muresan nicht bestreiten. Gleichwohl wurde im Landwirtschaftsministerium bisher wenig getan, um privaten Bauern eine Existenzgrundlage zu ermöglichen. Zwar wurden den Kooperativen bei ihrer Auflösung etwa 120 Milliarden Lei (nach damaligem Kurs 800 Millionen Mark) Schulden erlassen, aber weder Kleinbauern noch Landwirtschaftsvereine erhielten Ausrüstungen, preiswertes Saatgut oder zinsgünstige Kredite. Ein Traktor kostet rund acht rumänische Jahresdurchschnittsgehälter, und die Preise für Saatgut übersteigen die Abnahmepreise des staatlichen Getreideaufkaufsmonopolisten „Romcereal“ um ein Vielfaches.

Abhilfe für die privaten Bauern ist allerdings nicht in Sicht. Was Landwirtschaftsminister Petre Marculescu kürzlich sagte, ist ein Alarmsignal, das ohne Folgen bleiben wird: „Wenn an den derzeitigen Konzepten keine grundsätzlichen Änderungen vorgenommen werden, weiß ich nicht, ob die Landwirtschaft in der Lage sein wird, die Ernährungsgrundlage unseres Landes zu sichern.“ Keno Verseck

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