Deutschstunde in Alt-Rehse

■ In Alt-Rehses „Führerschule“ trimmten die Nazis Deutschlands Ärzte auf Euthanasie und Rassenhaß. Heute sucht das 300-Seelen-Dorf in Mecklenburg ein neues Gesicht – und hofft auf „sanften Tourismus“.

Der Wirt schimpft: „Eine Heidenarbeit.“ Der Gast staunt. Wochenlang hat Gerhard Preuß in der Dorfwirtschaft zu Alt-Rehse, die in DDR-Zeiten offiziell verpönten mecklenburgischen Sprüche auf den eichenen Deckenbalken wieder freigelegt, Wort für Wort, zwölf an der Zahl, auch diesen: „Suup di duhn un frät di dick un holl dat Muul von Poletik“ (Sauf dich voll und friß dich dick und halt das Maul von Politik). Als hier noch Konsumkneipe war, schwiegen die Balken. Nun „reden“ sie wieder, dummes Zeug und weises.

Auf mehr als 800 Jahre Wohl und Wehe eines Gemeinwesens blicken die Chronisten zurück. Denn Alt-Rehse ist slawischen Ursprungs; Reze kommt von Reka, „Seedorf“, und Rehse ist heute noch ein „Seedorf“, gelegen inmitten der Endmoränenhügel, die am Südwestufer des langgestreckten Tollensesees bei Neubrandenburg einer sanften Landschaft das Gepräge gegen. „Es gibt wenige Dörfer in Deutschland“, sagt der Amateur-Historiker Wolfgang Köpp, Tierarzt im Vorruhestand, „denen die neuere Geschichte so nachdrücklich ihre Zeichen eingebrannt hat.“ Mitte der 30er Jahre wurde der Flecken plattgemacht und als „Musterdorf“ neu errichtet, ein Kunstdorf für Gutsarbeiter, die der Hauch von faschistischer Volksgemeinschaft umnebeln sollte. Zwanzig schilfgedeckte backsteinerne Fachwerkbauten entstanden, über deren Türbogen Großdeutschland zum Gruße abhob: Haus Württemberg und Baden, Haus Westfalen, Schleswig- Holstein, Hessen, Kurmark, Schlesien, Bayern, Pommern, Sachsen, auch Städtenamen, Inschriften, die in DDR-Zeiten von Staats wegen verdeckt werden mußten. Nicht nur das: Offiziell umgaben die SED-Sozialisten die Vergangenheit von Alt-Rehse mit der schon von Nazis wie Bormann verbreiteten Legende, im Ort hätte sich 1936 ein „Trainingslager für Wassersport-Olympioniken“ befunden.

Doch der eigentliche Makel von Alt-Rehse, der Leuten wie Köpp heute manch schlaflose Nacht bereitet, ist ein anderer: auf dem abgeschirmten Schloßgelände unterhalb des Musterguts stand, einer Idee der 1936 aufgelösten Ärzte- Vereinigung „Hartmann-Bund“ folgend, die „Führerschule“ der deutschen Reichsärzteschaft. Von 1935 an wurden hier Tausende junger Mediziner, Hebammen, Apotheker, Jungakademiker und Nazi- Funktionäre aus allen Gauen Hitlerdeutschlands geistig aufgerüstet für die Propagierung und Verwirklichung der faschistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik. Alt- Rehses Ärzteschule, in der führende Nazis wie Rosenberg, Himmler und Bormann ein und aus gingen, diente als „Born und Hort“ der praktischen Vorbereitung einer gleichgeschalteten Ärzteschaft für Euthanasie, Sterilisation, für Völkerhaß und Krieg.

Mit den Nürnberger Rasse-Gesetzen von 1935, mitverfaßt von dem „Rassentheoretiker“ und Alt- Rehse-Dozenten Prof. Dr. Böhm, war Lehrern wie Schülern auch in dem abgelegenen Musterdorf eine unheilvolle Handlungshilfe gegeben – von der Verfolgung, Vertreibung bis zur Vernichtung der Juden in den Gaskammern von Auschwitz.

„Der Arzt ist berufen, dem ganzen Volkskörper in Deutschland zur Gesundung, zur allmählichen Ausmerzung des Artfremden und zur Erhaltung des Arteigenen zu verhelfen“, erklärte bei der Eröffnung der Schule von Alt-Rehse der SS-General Leonardo Conti, nationalsozialistischer Staatssekretär für Gesundheitswesen. Und Gerhard Wagner, der Nazi-Ärzteführer, beschwor: „Das Fundament der neuen Heilkunde kann nicht die exakte Naturwissenschaft sein, sondern die nationalsozialistische Weltanschauung.“ In Alt-Rehse wurde dieses unrühmliche Kapitel in der deutschen Medizin mitverfaßt, wurden Ärzte auf das Töten „unwerten Lebens“ getrimmt, dem mehr als achtzigtausend Menschen zum Opfer fielen.

In dem Brief eines Alt-Rehse- Absolventen an SS-Chef Himmler: „Was die Frage anlangt, die Sie, Reichsführer, mir fast vor Jahresfrist in Alt-Rehse stellten, nämlich in welcher Zeit es etwa möglich wäre, 1.000 Frauen zu sterilisieren, so kann ich es heute vorausschauend beantworten: von einem eingeübten Arzt mit vielleicht zehn Mann Hilfspersonal höchstwahrscheinlich mehrere hundert – wenn nicht gar tausend – an einem Tag.“

Manchmal stimmten damals die Schulungsteilnehmer im Dorfkrug zu Alt- Rehse auch ihre „Hymne“ an: „Und holt einst der Tod uns zur Ruhe, der niemals gesehen uns feig, Alt-Rehser, die bleiben Kämpfer, fürs Dritte, fürs ewige Reich“. So sangen sie, und so schritten sie später zum Feldzug gegen die Völker Europas.

Auch die Ausrottung von sechs Millionen Juden wurde hier geistig vorweggenommen in Vorträgen, Seminaren, „Diskussionen“. Zum Beispiel Fragen zu jener „Selektierung“, die darüber entschied, ob ein Gefangener zum Arbeitseinsatz gepreßt werden konnte oder gleich den Gang in die Gaskammer antreten mußte. Der Nazi-Doktor und Himmler-Intimus Deuschl, bis 1941 Chef der Ärzteschule am Tollensesee, wütete später als SS- Verbrecher im Baltikum. Andere durch die Schule von Alt-Rehse gegangene „Ärzte“ tauchten nach 1945 im Westen Deutschlands unter, wo 1949 der Hartmannbund wiedererstand.

Zu Kriegsende war der Schloßpark ein Lazarett. Im Mai 1945 kamen Rotarmisten nach Alt-Rehse. Sie läuteten eine neue Diktatur ein, als Befreier und Eroberer, und wie die faschistische Wehrmacht ihnen zu Haus übelst mitgespielt hatte, ohne Erbarmen, ohne Gnade, millionenfach tödlich, das kehrte nun zurück und rächte sich. Alt-Rehse erlebte damals Gewalt, Verfall und Verzweiflung. Die Einheimischen wurden vertrieben, Frauen wurden vergewaltigt. Seinerzeit besuchte auch der legendäre Sowjet-Marschall Shukow den einstigen Ärztepark. Vermutlich ließ er die Nazis belastendes Material damals fortbringen, als Beweismittel für den Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher Hitler-Deutschlands. 500 Ärzte wurden dort verurteilt, 100 davon zum Tode. Wer von ihnen vor seinen Verbrechen durch die Schule von Alt-Rehse gegangen ist, läßt sich nicht mehr sagen – vielleicht liegt die Wahrheit darüber noch in Moskauer Archiven.

Nach Kriegsende 1945 ein Kinderwaisenheim, dann Lehrerbildungsseminar, avancierte der Ärztepark von Alt-Rehse Mitte der 50er Jahre zum NVA-Objekt, in dem sich die Generalität der Nationalen Volksarmee und die Parteiprominenz der SED tummelten. Für die Dorfbewohner war das militärische „Objekt“ bis zur Wende absolut tabu. Noch Mitte der 70er Jahre waren dort Bunkeranlagen entstanden, Befehlsstände für den „atomaren Ernstfall“. Nach den ostdeutschen Herbstereignissen von 1989 nahmen Bürgerrechtler sie erstmals in Augenschein, kopfschüttelnd ob der primitiven Ausstattung der Leitstände. Noch heute werden die Anlagen von einem angeheuerten zivilen Wachdienst bewacht. Wer weiß, was noch kommt.

Im mecklenburgischen Alt- Rehse fordert der geteilte Himmel noch immer seinen Tribut. Wie eh und je sind Dorf und Schloßpark getrennt. Während dem Dorfe der wichtigste Arbeitgeber, die Landwirtschaft, wegstirbt, und Bürgermeister Jörg Theil auf Privatinvestoren für einen „sanften Tourismus“ hofft, hat im einstigen Ärztepark die Bundeswehr das Sagen. Doch schon liegen beim Amt für offene Vermögensfragen Anträge auf Rückgabe des weitläufigen Geländes – delikaterweise ausgerechnet vom Hartmannbund sowie der Bundesvereinigung der Kassenärzte.

„Die haben wegen ihrer unseligen Verbundenheit mit den Nazis hier nichts zu suchen“, verlangt der Tierarzt und Ortschronist Wolfgang Köpp. Mit anderen engagierten Bürgern des Dorfes gründete er einen Förderverein. Der soll die wirtschaftliche Entwicklung Alt- Rehses voranbringen und dabei die reizvolle Seen-, Wald- und Hügellandschaft erhalten. Fregattenkapitän Peter Stiller, einer von rund 140 Bundeswehr-Bewohnern des einstigen Ärzteparkes, hat „Verständnis dafür, daß die Bürger von Alt-Rehse von uns Rückendeckung bei der Auseinandersetzung mit dem Hartmannbund erwarten.“ Stiller trat deshalb auch dem Förderverein des Dorfes zur Abwehr der West-Ansprüche bei. Bis mindestens 1994 allerdings bleibt die Bundeswehr auf dem geschichtsträchtigen Gelände. Wenn es nach den Dorfbewohnern ginge, sollte der Ort, von dem der Geist von Grauen und Tod ausging, so schnell wie möglich karitativen Zwecken dienen.

Auf dem Weg zu einer neuen Identität im anderen Deutschland hat Alt-Rehses Deutschstunde gerade erst begonnen. Daß das Dorf zu einem Wallfahrtsort für Neonazis wird, will hier niemand. Doch auch der Invasion durch kapitalträchtigen Kommerz steht man reserviert gegenüber. Er würde Alt- Rehse in seiner Identität bedrohen – als Ort der Mahnung und Warnung vor Verbrechen und Krieg, als Dorf am See mit Hoffnungen auf wirtschaftlichen Aufstieg. Noch bleibt dafür viel zu tun. Wie heißt es im Dorfkrug volksmundig: „Wat soele wi trurig sin – un' Geld drückt uns jo nich.“ Klaus-Dieter Stefan