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Und... und... und...

„Tausend Plateaus“ von Gilles Deleuze und Felix Guattari  ■ Von Mathias Bröckers

Vor zwanzig Jahren, im Sommer 1972, erschien der „Anti-Ödipus“, ein Buch, zu dem sich Gilles Deleuze, Philosophie-Professor in Vincennes bei Paris, und der Psychoanalytiker Felix Guattari zusammengetan hatten und dessen Name Programm war: Es blies zum Sturm auf Ödipus, die Galionsfigur der Freudschen Theorie. Mit einem ungeheuren Erfolg: 20.000 Exemplare des schwierigen theoretischen Werks wurden allein im ersten Jahr verkauft, Übersetzungen sorgten in Europa und auch in den USA für eine Verbreitung weit über Spezialistenkreise hinaus. Aufsehen erregte der „Anti- Ödipus“ in vielfacher Hinsicht: Er war das erste aus der Studentenbewegung gewachsene theoretische Werk und gleichzeitig alles andere als eine neue Theorie: „Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise“, bekundeten Deleuze und Guattari, „es gibt keinen Tod des Buchs, sondern eine neue Art zu lesen. In einem Buch gibt's nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. Nichts zu interpretieren und zu bedeuten, aber viel, womit man experimentieren kann.“ Trotz solcher ungewöhnlichen Leseanweisungen feuerten viele den „Anti-Ödipus“ nach wenigen Versuchen als „unlesbar“ in die Ecke. Wie eine schräge Frank-Zappa- Komposition gegen die Hörgewohnheiten des „Musikantenstadels“ verstieß, so verstieß dieses Buch gegen die Lese- und Reflexionsgewohnheiten des akademischen Betriebs.

Mit dem Netz, das Deuleuze/ Guattari geknüpft hatten – in atemloser, provokanter Sprache, mit neuartigen Begriffen und tänzelnd assoziativem Stil –, sollte nicht nur der Ödipuskomplex von seinem Sockel gezerrt werden. „Kapitalismus und Schizophrenie“ lautete der Obertitel des Buchs – es ging also um mehr als nur um eine Abrechnung mit Freud: Jedwede Verrücktheit allein auf den frühkindlichen Dreiecksstreß mit Mama und Papa einengen zu wollen – dies war nur eine von vielen Pressionen, an deren Beseitigung den Autoren gelegen war. Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe beschrieb Michel Foucault den „Anti-Ödipus“ als Einführung in eine neue Lebenskunst: anti-ödipal zu sein, so Foucault, „ist ein Lebensstil geworden, eine Art und Weise zu denken und so zu leben. Wie kann man sich davor bewahren, ein Faschist zu sein, auch wenn man sich für einen revolutionären Militanten hält? Wie können wir unser Sprechen und unser Tun, unsere Herzen und unsere Lüste vom Faschismus befreien? [...] Deleuze und Guattari verfolgen die leisesten Spuren des Faschismus im Körper.“

Die These des „Anti-Ödipus“, daß die Gesellschaft von einem schizophrenisierenden Potential durchzogen ist, dem letztlich niemand entkommen kann, es also nur zu „normal“ ist, an der Verrücktheit der Welt irre zu werden, mit dieser bedrohlichen Perspektive des Buchs korrespondierte gleichzeitig eine befreiende: Mit der Verrücktheit gehen kreative, befreiende Momente einher, der Wahnsinn ist ein Akt der Freiheit, und ein Top-Agent dieser Freiheit ist der Schizophrene, der Schizo, wie ihn die Autoren liebevoll nannten, ein revolutionäres Subjekt. Die Euphorie, mit der sie den umherschweifenden Schizo als eine gegen jegliche Ordnung aufbegehrende „Wunschmaschine“ beschrieben, atmete zugleich zutiefst den Geist der antiautoritären Rebellion von 68, und wie noch jedes im Elan des Aufbruchs und der Veränderung verfaßte Werk wirkt, in der Rückschau betrachtet, auch dieses Buch in vielen seiner Hoffnungen naiv.

Deleuze und Guattari selbst sehen das so: „Der Anti-Ödipus war erfolgreich, aber dieser Erfolg wurde von einem noch größeren Scheitern begleitet. Der Anti-Ödipus wollte auf die Verwüstungen hinweisen, die Ödipus, das ,Mama- Papa‘ in der Psychoanalyse, in der Psychiatrie und selbst in der Anti- Psychiatrie, in der Literaturkritik und im allgemeinen Bild, das man sich vom Denken macht, anrichtet. Wir haben davon geträumt, Ödipus den Garaus zu machen. Aber diese Aufgabe war zu groß für uns. Die Reaktion auf 68 hat gezeigt, wie stark Ödipus noch in der Familie war und wie er weiterhin in der Psychoanalyse, in der Literatur und überall im Denken sein Regime der kindlichen Weinerlichkeit ausübte. [...] Im Anti-Ödipus gibt es drei Hauptthemen:

1)Das Unbewußte arbeitet wie eine Fabrik und nicht wie ein Theater.

2.Wahngebilde oder Romane gibt es überall auf der Welt und in der Weltgeschichte, und sie gehören nicht zur Familie – man deliriert Rassen, Stämme, Kontinente, Kulturen...

3)Es gibt eine Universalgeschichte, aber sie ist eine Geschichte der Kontingenz...

Der Anti-Ödipus war von Kant geprägt, er sollte eine Art Kritik der reinen Vernunft auf der Ebene des Unbewußten sein. ,Tausend Plateaus‘ beruft sich dagegen auf nach-kantianische (und überdies entschieden anti-hegelianische) Bestrebungen. Dieses Vorhaben ist ,konstruktivistisch‘: Es geht um eine Theorie der Mannigfaltigkeiten als solche.“

„Tausend Plateaus“ war die Fortsetzung und der Schluß von „Kapitalismus und Schizophrenie“ und erschien in Frankreich 1980. Beim Publikum hinterließ es eher Ratlosigkeit. Daß Kritiker und Leser mit dieser Theorie der Mannigfaltigkeiten so wenig anfangen konnten, ist allerdings keine Überraschung. Was soll das Publikum schon von einem Boxer halten, der seine niederschmetternden Qualitäten plötzlich ins „Konstruktive“ wendet? Eben dies taten Deleuze und Guattari in einem zweiten Band: Statt sich im Ring einen Gegner zuzurichten, eröffneten sie neue Felder, tausend Plateaus, Ereignisfelder, auf denen vielfältige Auseinandersetzungen stattfinden. Ein Kaleidoskop der Menschheitsgeschichte, aufgehängt an scheinbar willkürlichen Daten und Ereignissen. Doch auch diese Anti-Struktur hat Methode: Es gibt keine aufsteigende Linie der Geschichte, keine Linearität vom Wilden zur Kultur: Statt der im „Anti- Ödipus“ noch bewahrten Reihenfolge Wilde-Barbaren-Zivilisierte geraten nun alle möglichen gleichzeitig existierenden Gebilde in den Blick: primitive Gruppen wie hochorganisierte Apparate, das Tierwerden des Menschen ebenso wie seine Anpassung an Maschinen und Medien. Diese Theorie der Mannigfaltigkeiten ist auch eine der Gleichzeitigkeiten, der Vermischungen und Unschärfen, der Dissonanzen und der Vielstimmigkeit.

Der Philosoph Wittgenstein hat einmal gesagt: „Was auf einer Leiter erreichbar ist, interessiert mich nicht.“ Dieser Satz könnte als eine Art Konstruktionsprinzip dieser „Tausend Plateaus“ gelten: axiomatische Ableitungen Schritt für Schritt, eine mechanische Philosophie, die von der komplexen Oberfläche der Dinge durch Ableitung zu immer einfacheren Gesetzen gelangt (und schließlich zur alles erklärenden Weltformel), interessieren Deleuze und Guattari nicht. Nicht die Oberfläche ist komplex und die Bausteine einfach, sondern umgekehrt: Je mikroskopischer die Wahrnehmung, desto komplexer, vielfältiger werden die Wechselwirkungen. Mit simpler Kausalität und Logik zum Wesen der Dinge zu kommen – diese Illusion haben diese Autoren hinter sich gelassen, nicht das Wesen, das Ereignis der Dinge ist Gegenstand ihrer Philosophie.

In einem Gespräch anläßlich des Erscheinens der französischen Ausgabe hat Gilles Deleuze das so ausgedrückt: „Dieses Buch ist wie eine Ansammlung von zerbrochenen Ringen. Jeder kann in die anderen eindringen. Jeder Ring oder jedes Plateau sollte seine eigene Atmosphäre haben, seinen eigenen Ton und seine eigene Stimmlage. Dies Buch ist ein Buch der Ideen. Die Philosophie hat sich immer mit Ideen beschäftigt: Philosophie machen bedeutet den Versuch, Begriffe zu erfinden und zu erschaffen. Nur haben die Begriffe viele mögliche Aspekte. Man hat sie lange benutzt, zu bestimmen, was eine Sache ist, das Wesen, das An-Sich-Sein. Wir dagegen interessieren uns für das Ereignis einer Sache, ihre Umstände [...], für uns muß das Konzept das Ereignis nennen und nicht umgekehrt, von daher die Möglichkeit, erzählerische, sehr einfache Verfahrensweisen in die Philosophie einzuführen. Zum Beispiel muß uns ein Konzept wie das des Ritornells sagen, in welchen Fällen wir das Bedürfnis verspüren, leise vor uns hin zu singen. Oder nehmen wir das Gesicht: Wir glauben, daß das Gesicht ein Produkt ist und daß nicht alle Gesellschaften Gesichter produzieren, aber daß bestimmte es nötig haben. In welchen Fällen und warum? Jedes Plateau muß deshalb eine Karte der Umstände aufstellen, deswegen hat jedes ein Datum, ein fiktives Datum, und jedes eine Zeichnung. Es ist ein illustriertes Buch. Was uns nämlich interessiert, sind die Arten der Individuation, die nicht mehr diejenigen einer Person oder eines Objektes sind. Zum Beispiel die Individuation einer Stunde des Tages, einer Region, eines Klimas, eines Flusses, eines Windes, eines Ereignisses. Vielleicht glaubt man zu Unrecht an die Existenz von Dingen, Personen oder Themen. Der Titel ,Mille plateaux‘ weist auf diese Individuationen hin; sie sind weder personaler noch dinglicher Natur.“

Keine Person und kein Ding – auf tausend Plateaus umkreist dieses Buch die Sphäre des „Dazwischen“: die Pole nicht mehr dualistisch denken, sondern interaktiv und vermittelt, als Intermezzo. Gegen die alten Dualismen setzen Deleuze und Guattari ihre neuen Begriffe, ein Denken nicht mehr in Abstammungslinien – Stammbäumen –, sondern in offenen Systemen, „Rhizomen“; nicht mehr in Familien, sondern in Meuten, Horden, Banden; nicht als hautverkapseltes „Ich“, sondern als „organloser Körper“; nicht mehr staatlich, sondern „nomadologisch“; nicht seßhaft, sondern „vagabundierend“; nicht mehr in Grenzen, sondern in unscharfen Mengen, fraktalen Rändern, Wellen.

Dieses Buch ist das Gegenteil einer traditionellen philosophischen Abhandlung. Doch würden sich die Autoren hüten, diese Gegensätze zu nennen, ihre Anti- Begriffe didaktisch und pädagogisch zu präsentieren, sie praktizieren sie. Das Buch „Tausend Plateaus“ hat keinen Anfang und kein Ende, keine aufsteigende Logik, keine kausalen Verkettungen, kein System im klassischen Sinne. Und doch, so Gilles Deleuze, ist es alles andere als ein unsystematisches Buch: „Das Versagen der Systeme ist heute eine geläufige Bemerkung geworden, die Unmöglichkeit, ein System zu schaffen wegen der Verschiedenheit des Wissens. Diese Idee hat zwei Nachteile: Man faßt nur noch ernsthafte Arbeiten über kleine, sehr lokale und bestimmte Themen ab, und, schlimmer noch, man vertraut alles Umfassende einer schwärmerischen Nicht-Arbeit an, wo jeder alles mögliche sagen kann. In Wirklichkeit haben die Systeme überhaupt nichts von ihrer lebendigen Kraft verloren. Heute gibt es in der Wissenschaft und in der Logik den Anfang einer Theorie der sogenannten ,offenen Systeme‘, die auf Interaktion begründet sind, die nur lineare Kausalitäten ablehnen und den Begriff der Zeit verändern. Was Guattari und ich Rhizom nennen, entspricht genau einem offenen System. Die Antwort auf die Frage: ,Was ist die Philosophie?‘ müßte sehr, sehr einfach sein. Alle wissen, daß die Philosophie sich mit Begriffen beschäftigt. Ein System ist die Gesamtheit von Begriffen. Es ist ein offenes System, wenn die Begriffe mit Ereignissen verbunden werden und nicht mehr mit dem Wesen. Aber auf der einen Seite sind die Ideen nicht vorgegeben, sie existieren nicht von vornherein: man muß Begriffe finden, schöpfen. [...] Neue Begriffe schaffen, die von Bedeutung sein würden, das ist immer das Anliegen der Philosophie gewesen. Auf der anderen Seite sind die Ideen keine Verallgemeinerungen, in der Atmosphäre der Zeit, sondern im Gegenteil, sie sind Einmaligkeiten, die auf die Flut des einfachen Denkens reagieren: Man kann sehr gut ohne Konzept denken, aber sobald es ein Konzept gibt, existiert wirklich eine Philosophie. Das hat nichts mit einer Ideologie zu tun. Ein Konzept steckt voller kritischer und politischer Kraft und Freiheit. Es ist ja gerade die Kraft des Systems, die alleine herausfinden kann, was gut, was schlecht ist, was neu oder nicht neu, lebendig oder nicht lebendig in einer Ideenkonstruktion ist. Nichts ist absolut gut, alles hängt vom systematischen Gebrauch und der Klugheit ab. In ,Tausend Plateaus‘ versuchen wir zu sagen: Das Gute ist niemals sicher – zum Beispiel bedarf es nicht nur eines ,glatten Raums‘, um die Einfurchungen und Engen zu überwinden, nicht bloß eines Körpers ohne Organe, um die Organisation zu überwinden. Man wirft uns manchmal vor, komplizierte Worte zu benutzen, um ,auf schick zu machen‘. Das ist nicht nur bösartig, sondern auch idiotisch. Ein Konzept braucht manchmal ein neues Wort, um bezeichnet zu werden, manchmal bedient es sich eines gewöhnlichen Worts, dem es einen einmaligen Sinn gibt. Auf jeden Fall glaube ich, daß das philosophische Denken niemals eine solche Rolle gespielt hat wie heute, weil sich ein ganzes, nicht nur politisches, sondern auch kulturelles und journalistisches System bildet, das einen Angriff auf jedes Denken darstellt.“

Gegen diesen systematischen Angriff auf das Denken setzen Deleuze und Guattari ihr Anti-System der Philosophie, ihre Zungenbrecher wie das Wort „Deterritorialisierung“, das einem schon im „Anti-Ödipus“ den Nerv raubte. Wie hört sich das an, wenn man auf die Frage nach dem Inhalt eines Buchs antwortete: „Es geht um Deterritorialisierungen“. Im besten Fall kann daraus ein Woody- Allen-artiger Monolog werden, in dessen Verlauf klar wird, daß es auch um moderne Kunst und Kosmos, Fluchtlinien des Begehrens, um Maschinen und Apparate, Stickereien und Patchwork, Bergbau und Viehzucht, Kriegsmaschinen und Beethoven, Ordnung und Gewalt, Steinzeit und Postmoderne geht, sowie – womit Woody dann zu Potte käme – um die Wünsche, die Energie, die Körper – und vor allem ihr Verschmelzen. Deterritorialisierungen eben.

Deleuze und Guattari betreiben eine fröhliche Wissenschaft. Sie lassen die Bedeutungen ihrer Begriffe schon auf der Zunge zerplatzen und stellen das symbolische Territorium der Worte in Frage: „Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern mit Vermessen, mit Kartenmachen, selbst von noch unbekannten Gegenden.“ Philosophie als Landvermessung. Die Schwierigkeit, „Tausend Plateaus“ zu lesen und zu verstehen, löst sich auf, wenn wir sie nicht als Abhandlung, sondern als Atlas lesen. Nicht als Bedienungsanleitung, sondern als Werkzeugkasten. Nicht als Lehrbuch, sondern als Wanderkarte. „Geologie der Moral“ ist eines der Plateaus überschrieben, eine ironische Anspielung auf Nietzsches „Genealogie der Moral“, auf das alte, lineare Denken in Abstammungsreihen.

Was aber haben geologische Formationen und menschliche Moral miteinander zu schaffen? „Für wen hält sich die Erde?“ fragen Deleuze und Guattari und zeigen, daß die Art, in der Menschen im Raum verteilt sind, sehr wohl damit zu tun hat, wofür sie sich halten. Es waren Nomaden, die das Gefüge Mensch-Tier-Waffe, Mensch-Pferd-Bogen erfanden – die erste Kriegstechnik. Und es waren die Staaten und Städte, die sie pervertierten. Der Bau einer raumübergreifenden Kanone erfordert eine Investition, die nur ein Staatsapparat tätigen konnte. Derart sind die Geschichten, die Ereignisse, mit denen Deleuze und Guattari die Gegenwart konfrontieren, eine Gegenwart, in der Vergangenheit nicht auf eine tote Ahnengalerie reduziert ist, sondern virulent und wirksam, aktiv in einem mannigfaltigen Prozeß des Werdens.

„Es geht um das Modell, das unaufhörlich entsteht und einstürzt, um den Prozeß, der unaufhörlich fortgesetzt, unterbrochen und wieder aufgenommen wird. Nein, kein neuer oder anderer Dualismus. Ein Problem der Schrift: Man braucht dringend anexakte Ausdrücke, um etwas exakt zu bezeichnen. Und zwar keineswegs, weil man da hindurch müßte, weil man nur durch Annäherungen weiterkäme, die Anexaktheit ist eben keine Annäherung, sondern genau eine Durchgangsstelle dessen, was Werden ist. Wir ziehen den einen Dualismus nur heran, um den anderen zu verwerfen. Wir benutzen den Dualismus von Modellen nur, um zu einem Prozeß zu gelangen, in dem jedes Modell verworfen wird [...], um zu der Zauberformel zu kommen, die wir alle suchen: Pluralismus=Monismus, und dabei durch alle Dualismen hindurchzugehen, die der Feind sind, aber ein unbedingt notwendiger Feind, das Mobiliar, das wir immer wieder verschieben.“

In einer labyrinthischen Bibliothek, in der die Bücher dauernd verstellt und verschoben werden, kann man sich nicht auf herkömmliche Art zurechtfinden, sie verweigert sich jeder Registrierung, geschweige denn einer Inhaltsangabe. Vielmehr ergeben sich in den einzelnen Abteilungen der Bibliothek ständig neue Kombinationen, ethnologische Werke tauchen unter Ökonomie auf, politische Fragen werden musiktheoretisch beantwortet, unter Linguistik finden sich Bücher über Handarbeit, in der Abteilung Philosophie über Geometrie und mittelalterliche Technik. Nichts ist mehr, wo es war– und nichts ist mehr– alles fließt, ist in ständigem Werden. In einem Katalog der Bibliothek müßten jedem Schlagwort Verweise auf sämtliche anderen folgen – er wäre unbrauchbar. Nichts ist mehr, denn gegen das Verb „sein“ setzen Deleuze und Guattari die Konjunktion des „und... und... und“ – die überbordende Vielfalt, die bizarre Kombinatorik und die vom Kirchenvater Augustinus bis zum rosaroten Panther polyphonen Stimmen dieses Buchs sind kein Zufall, sondern Methode. Und wollte man diese Methode bezeichnen, dann am ehesten mit einem Terminus der Computersprache: konnektionistisch. Konnektionistische Maschinen, aus vielen Rechnern zusammengeschaltete sogenannte Neuralnetzwerke, treffen ihre Entscheidungen nicht auf der Grundlage binärer Logik, fragen also nicht, ob etwas absolut richtig oder falsch ist, vielmehr hat jede einzelne Behauptung ein Gewicht. Auf die Frage, ob es sich bei einem Gegenstand mit der Seitenlänge von 4 mal 4 mal 3,9 Zentimeter um einen Würfel handelt, wird jeder digitale Rechner sofort ein „Nein“ ausspucken, während ein Neuralnetzwerk einen Moment später zu dem Ergebnis kommt: „Das Ding sieht einem Würfel verdammt ähnlich“. Eine Antwort, wie sie auch von den Fuzzy-Logikern Deleuze und Guattari sein könnte.

Die Parallele der „Tausend Plateaus“ zur Parallel-Intelligenz trägt noch weiter: Für einfache Aufgaben ist die hierarchische, binäre Hackordnung von Digital- Rechnern nach wie vor unverzichtbar. Je komplexer aber die Probleme werden, als desto überlegener erweist sich die dynamische Interaktion der neuralen Netzwerke. Wer einfache Antworten sucht, wird sich auf den Hochebenen und in den Schwarzen Löchern dieses Buchs verirren. Je komplexer aber die Gegenwart wird, desto überlegener könnte sich das multiple Denken dieser beiden wilden Philosophen noch erweisen.

Gilles Deleuze, Felix Guattari: „Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie“. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé. Merve Verlag 1992, 716 Seiten, 98 DM

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