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Mordanklage gegen Krankenpfleger

Gestern begann in Bielefeld das Verfahren gegen den Krankenpfleger Wolfgang Lange/ Patienten Luft in die Venen injiziert – Motiv unklar/ Bei Kolleginnen galt Lange als unbeliebt  ■ Aus Bielefeld Heide Platen

Da sitzt er nun seit gestern auf der Anklagebank im SaalI des Bielefelder Landgerichts, dieser augenfällig unglückselige Wolfgang Lange. Das dunkelblaue, karierte Jackett knittert und spannt, er tapst eher, als daß er geht. Das Gesicht unter der Stirnglatze ist gerötet, schwer hängen die rundlichen Wangen. Am Blitzlichtgewitter blickt er duldsam und schräg vorbei.

Wolfgang Lange hat laut Anklage von Mai bis Dezember 1990 in der Westfälischen Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie in Gütersloh zehn Menschen, drei Männer und sieben Frauen, heimtückisch ermordet. Ein paar mehr noch, vierzehn Morde, hat er gestanden. Sechzehn Leichen waren exhumiert worden, zehn der Fälle hielt die Staatsanwaltschaft für nachweisbar. Die Opfer des Krankenpflegers Lange, meist alt und gebrechlich, lagen arg- und wehrlos in den Betten. Er injizierte ihnen mit einer Spritze Luft in die Venen.

Im Vorfeld des Prozesses rätselte die Öffentlichkeit wieder einmal über die Motive. Parallelen gibt es seit den siebziger Jahren reichlich, die spektakulärste läßt sich zu dem Fall der Krankenschwester Michaela Roeder ziehen. Sie wurde 1989 in Wuppertal wegen 17fachen Mordes angeklagt und schließlich wegen Totschlags, fahrlässiger Tötung und Tötung auf Verlangen zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.

Wolfgang Lange nannte für sich eine krause Mischung von Mitleid mit den Hilflosen, eigenem Gefühlsdurcheinander, Angst vor Krankheit und Tod. Seine Probleme am Arbeitsplatz waren bekannt. Der Angeklagte hat auf den ersten Blick nichts von jenem äußerlich kühlen, patenten Perfektionismus, der in anderen Fällen die Phantasien von weißen Todesengeln und Krankenschwestern zur Vorverurteilung vermischt. Er war unbeliebt, galt als ungeschickt, konnte mit schwerkranken Menschen schlecht umgehen, war williges Arbeitspferd und schluckte das Mobbing seiner Kolleginnen unwidersprochen. Ein „richtiger Unsympath“, sagt eine ehemalige Krankenschwester. Andere waren von seinen Anbiederungsversuchen und seiner Servilität abgestoßen. Dienstpläne konnte er besser sortieren als sich selbst.

Wahrscheinlich wird auch davon nichts erklären, warum sich Lange in individueller Schuld zu den Patienten setzte, heimlich die Spritze zückte und seine Opfer mit dem Wissen um deren Tod aus der Welt schaffte – zu jeder Tageszeit, zu Mitternacht, am Vormittag, zur Kaffeezeit und am Abend.

Der Klinikchef, Professor Klaus Dörner, nicht als Zeuge geladen, ist ein renommierter Spezialist. Er engagierte sich in Büchern und Aufsätzen für ein würdiges Altern und gegen die Wegwerfmentalität und „Entwertung“ des Lebens. Er verurteilt solche Taten hart. Sie seien weder mit gesellschaftlichen Trends noch mit der Überlastung des Personals zu entschuldigen. Den ersten Verdachtsmomenten in seinem eigenen Hause ging aber auch er nur halbherzig nach, so wie Klinikleitungen anderswo eben auch. Anzeichen hat es – an Dörners Ansprüchen gemessen – genug gegeben. Schwestern schöpften mehrmals Verdacht, riefen interne Sitzungen ein. Sie fanden zum Beispiel neben einem Patienten, der gerettet werden konnte, leere Medikamentenschachteln des Psychopharmakons „Neurocil“, wunderten sich außerdem über die zahlreichen Todesfälle während des Dienstes von Wolfgang Lange und über die unerwarteten Ateminsuffizienzen bei Patienten. Interne Gespräche blieben allerdings folgenlos. Dies alles hat der Träger der Klinik, der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, 1991 in einer akribischen Sammlung aufgelistet und kommt zu dem Schluß, daß Überlastung und Mißstände in Gütersloh seit Jahren bekannt waren. Signale wurden abgewiegelt und heruntergespielt.

Der novembrige Morgen im Landgericht geht schnell zu Ende. Staatsanwalt Heidbrede verliest die Anklage kurz und knapp, zählt die Fälle auf, nennt fast nur die Namen, Geburts- und Sterbedaten der Toten. Der wichtige psychologische Gutachter Herbert Maisch ist wegen Krankheit nicht erschienen. Sein Gutachten lag der Verteidigung erst seit wenigen Tagen vor. Die Rechtsanwälte Hoffmann und Küter verlangen eine Vertagung der Verhandlung um vier Wochen. Das Gutachten müsse mit ihrem Mandanten erörtert werden, dem dies sehr schwer falle. Das brauche Zeit. Richter Woiwode lehnt das ab, unterbricht aber – auch wegen der Krankheit des Gutachters – um zwei volle Verhandlungstage. Dies sei, meint er, gleichzeitig genug Bedenkzeit.

Wolfgang Lange stolpert beim Verlassen des Saales dicht neben der Tür fast an die Wand. Inzwischen hat, weiß eine Zuhörerin im Saal, ehemalige Krankenschwester, „die Saison wieder einmal begonnen“. Es wird wieder besonders viel gestorben werden in den Pflegestationen der Altenheime und Krankenhäuser. Die Alten und Kranken, die Siechen und Schwachen, die Überflüssigen und die Überdrüssigen werden vor allem im Winter, zu Weihnachten, und noch mehr zum Jahreswechsel, abgeschoben.

Eine Lokalzeitung nannte die Toten von Gütersloh „Senioren“. „Daß sind die“, sagt eine Pflegerin, „doch nur, solange die konsumieren und teure Residenzen bezahlen können.“

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