Den Spiegel vorgehalten

In Robert Harris' Roman „Vaterland“ haben wir den Zweiten Weltkrieg gewonnen  ■ Von Elke Schubert

In England und in den USA eroberte das Buch „Fatherland“ schon kurz nach seinem Erscheinen die Spitze der Bestsellerlisten. Es wurde bereits in 13 Sprachen übersetzt, die Filmrechte sind an Hollywood verkauft. Ganz anders in Deutschland: Hier hatte der Agent des Autors große Mühe, die Rechte des erfolgreichen Romans zu verkaufen. Besprechungen der englischen Ausgabe in deutschen Zeitungen fielen überwiegend negativ aus. Man bezeichnete den Roman als „frivole Geschmacklosigkeit“, die den in Europa grassierenden Deutschenhaß bediene, Ressentiments schüre und die Angst der europäischen Staaten vor einer Hegemonie Deutschlands im vereinigten Europa noch steigere. Keiner der 25 Verlage, denen das Buch angeboten wurde, wollte sich die Finger verbrennen. Und als sich endlich der Schweizer Haffmans-Verlag entschloß, das Buch einen Monat vor der Frankfurter Buchmesse herauszubringen, da widmete der Spiegel „Vaterland“ den Aufmacher seines Kulturteils. Im Oberlehrerduktus wird hier dem Autor vorgeworfen, daß er den Deutschen nicht zu „neuen Erkenntnissen“ über ihre „Nazivergangenheit“ verhelfe, sondern das vereinigte Deutschland dämonisiere und zugleich das Dritte Reich verharmlose, als handele es sich nicht um einen Kriminalroman, sondern um eine historisch-kritische Abhandlung.

Die Vehemenz, mit der das deutsche Feuilleton „Fatherland“ verurteilte, scheint zunächst angesichts des Sujets unverständlich. Denn der britische Journalist Robert Harris hat einen packenden Kriminalroman geschrieben, der in einem verblüffenden Szenario spielt. „Berlin 1964: Deutschland hat vor 20 Jahren den 2. Weltkrieg gewonnen, des Führers 75. Geburtstag steht kurz bevor, und die Grenzen des Deutschen Reiches erstrecken sich vom Atlantik bis zum Ural. In einem vereinigten Europa ist die Vorherrschaft des Siegers unumstritten, und Polizeibeamte laufen in SS-Uniform herum. Noch immer wird die Menschheit von Fanatikern, die selten dem Idealbild des blonden, blauäugigen Übermenschen auch nur annähernd entsprechen, in minderwertige und arische Rassen unterteilt. Über die schwammigen Gesetze der germanischen Rasse (wurde) von jenen gewacht, die des Wertes ihres Blutes weniger sicher waren ... Der Lahme und der Häßliche, die kleinsten Ferkel aus dem nationalen Wurf — das waren die lautesten Verteidiger des Volkes.“

Nachdem die USA und Deutschland 20 Jahre in einen kalten Krieg verwickelt waren, steht nun der erste Besuch eines amerikanischen Präsidenten seit Beendigung des Krieges bevor. (Dieser ist pikanterweise Joseph Kennedy, der Vater von John F., bekannt für seine antisemitischen Neigungen und seine Hitler-Begeisterung.) In diese Zeit fällt eine Serie mysteriöser Morde, deren Opfer — hohe SS-Offiziere und Nazi-Größen — in einem engen Zusammenhang stehen, der sich dem Fahnder Xaver März aber erst erschließt, als es schon zu spät ist. Die reibungslos laufende Staatsmaschinerie wird deshalb nur kurzfristig gestört. Doch deuten sich bereits Brüche an, die der Entwicklung der Medien geschuldet sind: Die Jugendlichen zum Beispiel, die heimlich Rockmusik hören und nicht im sinnlosen Kampf mit renitenten Partisanen im Osten des Reiches verheizt werden wollen, können trotz HJ und BDM nicht mehr so leicht im Zaum gehalten werden.

Wie Winston Smith aus Orwells „1984“ bewegt sich der Fahnder Xaver März – ein Einzelgänger, der jede Gelegenheit nutzt, um nicht seine SS-Uniform tragen zu müssen – in einer Welt, in der einer dem andern nicht traut und Denunziation zu einer allseits akzeptierten Verhaltensweise geworden ist. Den „deutschen Blick“ nennt er das Phänomen, wenn jemand zuerst über die Schulter nach hinten schaut, bevor er anfängt zu reden. Um den Leser mit den Örtlichkeiten der Reichshauptstadt bekannt zu machen, in der Albert Speers architektonische Pläne weitgehend verwirklicht wurden, läßt Harris den Protagonisten zusammen mit seinem Sohn, einem begeisterten HJ-Mitglied, eine Stadtrundfahrt unternehmen. Die Fremdenführerin betont in jedem Satz die überlegene Größe der Gebäude: „Höher, länger, größer, breiter, teurer ... Selbst nach dem Sieg hat Deutschland einen Minderwertigkeitskomplex. Alles mußte mit dem verglichen werden, was das Ausland hat.“

Die deutschen Rezensenten haben Harris unter anderem vorgeworfen, daß er schlicht die Vorurteile eines Engländers gegenüber den Deutschen reproduziere. Merkwürdig nur, daß die beschriebenen Verhaltensweisen, die zwischen übertriebener Eitelkeit und Minderwertigkeitskomplex flottieren, die fehlende Zivilcourage, offensichtliches Unrecht auch beim Namen zu nennen, einem im Deutschland der neunziger Jahre lebenden, einigermaßen reflektierten Menschen nur allzu vertraut erscheinen? Mag sein, daß Harris in angelsächsischer Tradition seinen Roman mit Blick auf die Bestsellerlisten konzipiert hat, mag sein, daß er die Ängste seiner Landsleute zwecks Verkaufssteigerung mit seinem Plot bedient. Darüber hinaus aber hat er etwas überaus Wichtiges einsichtig mitgeteilt: Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben. Und ohne den Sieg der Alliierten wäre wohl nichts von den Vernichtungslagern bekanntgeworden, die auch in Harris' Roman eine wichtige Rolle spielen. Das sechste Kapitel des Romans: „Sonntag, 19. April 1964“, wird durch eine Textpassage aus Primo Levis „Die Atempause“ eingeleitet, in der ein SS- Offizier dem Lagerinsassen die Aussichtslosigkeit seiner Situation deutlich macht: „Wie immer der Krieg auch enden mag, wir haben den Krieg gegen euch gewonnen; von euch wird niemand übrigbleiben, um Zeugnis abzulegen, aber selbst wenn jemand übrigbleiben sollte, würde die Welt ihm nicht glauben ... Wir werden die Geschichte der Lager diktieren.“

Robert Harris hat in seinem Roman den Deutschen einen Spiegel vorgehalten, das weit verbreitete Duckmäusertum und den vorauseilenden Gehorsam ins Zentrum gestellt. Er hat gezeigt, wie entfesselt gehorsame Bürger gegen alles ihnen nicht Vertraute vorgehen. Nicht zuletzt Rostock und Hoyerswerda wären ein Beleg für die Wahrheit in seiner Fiktion. Und das deutsche Feuilleton, die deutschen Verlage, haben Harris' angebliche Vorurteile nur allzu bereitwillig bestätigt.

Robert Harris: „Vaterland“. Aus dem Englischen von Hanswilhelm Haefs. Haffmans-Verlag, Zürich, 384 Seiten, 39 DM