: Das Grauen im Eisschrank
■ Mißlungenes Gespräch mit einer ehemaligen KZ-Gefangenen
„Mein linker Oberschenkel ist mit Furunkeln übersät, außerdem viele eiternde Schnittwunden. Es ist gut, meine Liebste, daß du mich so nicht sehen kannst. Du würdest erschrecken und weinen.“ Floris Bertold Bakels war Ende zwanzig, als er in Dachau diese Zeilen in seinem Tagebuch notierte. Eine der 14 Leidensgeschichten aus deutschen KZs, die Renata Laqueur zusammengetragen hat. Auch eine Möglichkeit, das Grauen zu überwinden: Eine wissenschaftliche Arbeit, die die eigene Geschichte mit einbezieht.
Renata Laqueur war vom März 1944 bis zum April 1945 in Bergen-Belsen eingesperrt. Eine der 14 Tagebuchaufzeichnungen ist ihre eigene. Sie sagt: „Schreiben ist Selbstverteidigung.“
„Ihr könnt nicht jemanden einladen, und ihn dann in einen Eisschrank setzen.“ Empört saß Renata Laqueur im Lehrerzimmer der Lesumer Schule am Steinkamp und wärmte sich an einer Tasse Kaffee. Und dem Direktor war das alles sichtlich peinlich. Die Schule hatte sie zu einer Lesung eingeladen, aber was waren das für Gastgeber: Eine ungastliche Aula, Temperaturen weit unter dem, was man unter Zimmerwärme versteht. Renata Laqueur sitzt gemeinsam mit ihrem Bremer Verleger Helmut Donat, dem Schulleiter und einer Lehrerin hinter Tischen verschanzt. Vor der Barriere Stuhlreihen, Schüler der
Renata LaqueurFoto: Tristan Vankann
zehnten Klassen, im Zwischenalter. Lautsprecher sind zwar da, nur benutzt werden sie nicht. Hinter Reihe drei wird die Stimme von Renata Laqueur immer dünner, und damit auch die Aufmerksamkeit. Das Geschrei, der Lärm, der vom Flur hereindringt, gibt der Veranstaltung den Rest.
Kann man so über das Grauen sprechen? Kann man so Menschen erreichen, klammgefroren, distanziert, viel zu leise und mit Lärmkulisse? Noch dazu SchülerInnen, die erstmal anderes im Kopf haben: Die beiden
Jungs stupsen immer wieder die Blonde an. Die dreht sich ein ums andere Mal um, schlägt geschmeichelt zu, und die Jungs wollen sich nicht wieder einkriegen vor Kichern. Unterdessen hetzt Renata Laqueur in ihrem Buch von Absatz zu Absatz.
Die agile alte Frau da vorne, die pubertierenden SchülerInnen da hinten, keine Verbindung über eine gnadenlos lange Zeit. Kann man den SchülerInnen ihre Pubertät vorwerfen? Renata Laqueur gibt sich sperrig, wirft den jungen Leuten schwer verdauliche Brocken hin: Daß
hier bitte das
Foto von der Frau
sie in Deutschland geboren, in Holland aufgewachsen ist, daß sie von der Gestapo verhaftet und nach Bergen-Belsen verschleppt worden ist, daß die Rote Armee den Gefangenenzug bei Leipzig befreite, daß sie nach Kanada und in die USA ausgewandert ist, daß... Fragmente — aber selten, ganz selten, kommt das 'wie– ins Zentrum der Erzählungen. Ihre Sprünge von Frage zu Frage, die sie in ihrer Doktorarbeit behandelt hat, all das rauscht an den SchülerInnen vorbei.
Es sind wenige Momente, in denen Stille eintritt, in denen die Zeit anhält und die alte Frau die jungen Menschen erreicht: Immer dann, wenn sie aus den Tagebüchern vorliest. Zum Beispiel eine Selbstbeschreibung aus den Aufzeichnungen von Floris Bakels: „Mein Kopf ist kahl, mein Gesicht mit den riesigen Augen und den abstehenden Ohren ähnelt dem einer alten, grauen Eule. Ich stinke nach Eiter und Urin, die Haut meiner Beine ist vollkommen schuppig. An Schenkeln und Gesäß hängt die Haut in Falten herunter.“ Das geht den SchülerInnen unter die eigene Haut. Oder die Szene aus Buchenwald, bei der sich ein SS-Mann neben einen ausgemergelten jüdischen Jungen setzt: 'Nicht sehr lustig hier, was?– — 'Nein–. 'Du willst sterben, nicht wahr?– — 'Ja–. Der SS- Mann tötete das Kind mit einem Genickschuß.
Nach der Aufwärmpause im Lehrerzimmer hatten sich die Reihen gelichtet, und die Direktion hatte einen Heizkörper aufgetrieben. Doch die Barrieren blieben bestehen, auch als die SchülerInnen Fragen stellen konnten, genauso schwer zu verstehen wie die Antworten. Nur bei der Frage nach dem Gefühl der Freiheit, da waren die SchülerInnen nochmal elektrisiert: „Ich hab erstmal gegessen, aber nicht zuviel. Ihr wißt ja nicht, was das heißt. Hunger. Ihr seid doch vollgefressene Kinder.“ Jochen Grabler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen