: Nachschlag
■ Jockel Tschiersch im BKA
Einer, der früher Saftpressen in Fußgängerzonen verkaufte, dreht durch, zieht die Schreckschußpistole, feuert ins Publikum, macht aus den zahlenden Gästen Geiseln. Daß sie zu feige sind, sich zu wehren, sagt er ihnen im voraus auf den Kopf zu. Wer auf der Bühne sitzt, hat die Macht. Der kann sich, zumindest hierzulande, auf die Herrschaft der Konventionen verlassen, die ihm allein den aktiven Part zuweisen und keine Gegenwehr befürchten lassen. Der kann von oben herab die unten Sitzenden nach Belieben mit Beleidigungen, geistlosen Zoten und Obstbrei traktieren. Sie danken es ihm mit Gelächter. Schließlich sind sie gekommen, um sich zu amüsieren.
Selbst der Träger der roten Trainingsjacke, der an diesem Abend wiederholt die Zielscheibe von Jockel Tschierschs dumpf-aggressivem Spott wird, ringt sich tapfer ein Grinsen ab – man will schließlich nicht humorlos wirken. Im Lachen der anderen schwingt die Erleichterung derer mit, die selbst keine roten Trainingsjacken tragen und sich freuen, ungeschoren davonzukommen. Jockel Tschierschs Programm appelliert an die unausgelebten Analphantasien des Publikums. Wer die eigene Saftpresse stets säuberlich abwischt und sich auch sonst um gepflegte Umgangsformen bemüht, darf sich im BKA einmal an dem animalischen Gemansche und Gerotze des Herren Tschiersch erfreuen und wird selbst die plumpesten Verstöße gegen den guten Geschmack mit dem halb entsetzten, halb bewundernden Lachen quittieren. Schließlich ist alles nur ein Spaß, wir sind im Kabarett, und der Kerl dort oben, der die imaginäre Mutter mit einem Besenstiel pfählt und den realen Kellner als „schwule Sau“ beschimpft, ist ja nicht wirklich Jockel Tschiersch. Alles ist eben nur eine Theaterrolle.
Diese Camouflage ist die Eintrittskarte ins Land des Lächelns, bildet die Verpackung, mit der „wabbelnde Titten“ und schwule Arschlöcher auch gebildeteren Kreisen als Unterhaltung verkauft werden können. Gemeinsam mit den wenigen etwas geistreicheren Gags sorgt sie für die erfolgreiche Konditionierung des Publikums. Dieses lacht selbst dann noch, wenn Tschiersch seinen Zuschauern den Spiegel vorhält und ihnen – „was, darüber können Sie wirklich noch lachen?“ – die eigene Blödheit vor Augen führt. Zu erforschen ist dieses Zeugnis des deutschen Humors noch bis zum 8. November um 20.30 Uhr im BKA, Mehringdamm 32-34. Sonja Schock
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