Stadtlandschaften und Tatorte

Reiseführer und historisch-literarische Wanderungen, vorgestellt  ■ Von Fritz von Klinggräff

„...und die Gräber bekannter Namen lassen sich finden. Giacomo Meyerbeer, der Verleger Leopold Ullstein oder der Maler Max Liebermann, der noch bis 1933 Präsident der Preußischen Akademie der Künste war.“ Man muß diese unflektierbaren Reihungen der Reiseführer isolieren, sie nochmals streifen mit einem zweiten Blick, um ihre Infamie zu begreifen. Der erste Blick schweift gelangweilt und namenshungrig darüber hinweg, der gierige Griff des rastlosen Kurzulaubers nach den Straßennamen, die Neues versprechen und doch nur verraten, daß man seine Fährte so nicht verlieren wird. „Leider ist der Friedhof auch in jüngster Zeit nicht vom Vandalismus verschont geblieben“, so brabbelt es schamlos weiter in Berlin grenzenlos — der neue City Guide für die ganze Stadt und Potsdam. Der ist beileibe nicht schlechter als die anderen. Im Gegenteil. Ein jeder Name findet den passenden Grabstein, die jüngste Zeit hat ihre Skandale, und kein Ausblick bleibt hier ohne den wohlinformierten Einblick.

Streng entlang der alten Bezirks- und Sektorengrenzen asphaltiert der City Guide seine Sinnspuren kreuz und quer durch Berlin, in der Sorge darum, das Neubuchstabieren der Topographie über die nächsten Auflagen hinweg zu verhindern: „Die Gebäude der NARVA selbst stehen ebenfalls unter Denkmalschutz...Vermutlich müßte man sogar die Maschinen des Unternehmens museal verwerten, denn der gesamte Komplex ist abgesehen von einer mittelmäßig modernen Taktstraße vollkommen veraltet.“ Schon schwingt hier eine stille Begeisterung mit für Ostberlins Zukunft als gigantischer Vergnügungs- und Gewerbepark, vermischt sich mit der Reiseführerlust am Musealen: Denkmalsarchitektonik zwischen gepflegten Rasenflächen, dann und wann eine Glühbirnenfacharbeiterin in laubharkender Umschulungsmaßnahme, das wär‘s!

Rolf Schneider in seinem Buch Berliner Wege, könnte man meinen, macht das gar nicht so ganz anders. Auch er präsentiert Rundgänge in kleinen Schleifen durch die Stadt, durch Karlshorst und Schöneiche, im Scheunenviertel, am Märkischen Ufer. Und doch verändert sich dem Leser die Berliner Stadtlandschaft auf liebliche Weise. Was Schneider vom Ort berichtet, in seiner langsamen Sprechweise, geschult am Erzählen des protestantischen Ostens — Johannes Bobrowski — nimmt auf Vollständigkeit so wenig Rücksicht wie auf alte Grenzen. Keine Vorschriften entlasten den schweifenden Blick und wenig Namen werden genannt; es bleibt bei Nachträgen aus der eigenen Vergangenheit, die sich erstreckt vom Urstromtal in die bedachte Zukunft. Entdeckungen und Erfahrenes sind der Stoff seiner Reisen von Schöneiche, wo er wohnt, in die Stadt, DDRlich, mit Vorlieben fürs Geschick und wenig guten Worten für die letzten vierzig Jahre. Das muß man sich alles nicht angucken vor Ort; man bleibt sitzen, einen langen Nachmittag im „Berliner Fenster“, im Hochhaus über dem Anhalter Bahnhof, überläßt die Liebermann, Meyerbeer, Ullstein auf dem jüdischen Friedhof, Schönhauser Allee, ihrer Umtriebigkeit, hört lesend eine andere Geschichte, die es nie gab, von einer Vera Falckenberg, von der man nichts weiß als diese Buchstabenfolge auf dem Grabstein und das Datum, den 22. April 1945. Wenn man dann doch losfährt, gelockt von einer vorsichtigen Stimme, von einer Stimmung — „Eine gewisse Kargheit liegt über der Gegend wie Herbstrauch“ —, so kann man das Buch getrost liegen lassen; die Erinnerung kommt immer an den richtigen Ort.

Daß dieser allemal Tatort sei, das aber darf nicht vergessen sein in einer Zeit, in der jeder Berlinführer sich den Flaneur auf die Schulter klopft; in einer Stadt, die sich Franz Hessel statt Benjamin oder Poe zum Stadtwanderer heranzog, vergißt es sich schnell, daß der Flaneur gleichgeboren seinem Bruder, dem Detektiv, nur eine Leidenschaft hat, das Verbrechen.

Eine Andeutung davon gibt durch seinen Titel der dickleibige Schmöker Berlin - Eine Ortsbesichtigung, 28 Tatortbegehungen durch 26 AutorInnen, deren Interesse unterschiedlicher nicht sein könnte. Heinz Knobloch ist dabei, der von seiner trauten Familie in der Spandauer Vorstadt, Berlin Mitte, von den Aufklärern und Menschenfreunden erzählt und nach der Schneider-Lektüre doch arg manieriert und großväterlich wirkt. Einfach klasse ist Renée Zuckers „Seen-Geblubber“: „Die besondere Schönheit der Berliner Seen besteht in ihrer furchbaren Dunkelheit, die das Schwimmen zur Unterbewußtseinsexpedition werden läßt.“ An einer Tatort-Bestimmung im engeren Sinne versucht sich Pieke Biermann, Autorin des westberliner Provinzkrimis „Potsdamer Ableben“. Sie hat offensichtlich mit dem Mauerfall den Faden ins Totenreich verloren. Was ihr bleibt, ist ein leerer Gemeinplatz und große Worte über die Verschränkung von urbanem Raum und Verbrechen: „Wir erleben die Kollisionen und Kurzschlüsse live und im Zeitmaß 1:1. Die Zahl der erlebbaren und also evozierbaren Plätze ist schlagartig vervielfacht. Die spezifischen Milieus, an denen ‘das Gute' und ‘das Böse' synchron passieren, ebenfalls.“

Zum Abschluß aber doch noch ein richtiger Reiseführer-Tip: Berlin zu Fuß (erscheint im Dezember), herausgegeben von Ingeborg Dittmann, Ex-Chefredakteurin der Zeitschrift „neu leben“ (Ost), und Detlef Kuhlbrodt, Westberliner und taz-Autor aus Holstein. Angelegt ganz klassisch als Stadtrundgänge, 18 an der Zahl, vom Ku'damm (der hier gar nicht so dämlich daherkommt) bis raus nach Kaulsdorf („westlich von Warschau“), setzt sich hier — zerstreut in Halbsätzen oder geballt zum Sentiment — ein Stadtbild zusammen, das irrlichtert wie einst die Berliner Romantik und das seine Einheit in leiser Melancholie und mürrischer Freundlichkeit hat. Wenn Detlef Kuhlbrodt in weiten Kreisen durchs No-mans-land ums Hallesche Tor streicht, glitzert vom Landwehrkanal her eine Berliner Heterotopie auf, in der die archäologischen Schichten ineinander verschwimmen und der Gedanke ‘Rosa-und-Karl' seine Gestalt findet in neuen Verbrechen: „Vergessen verliert sich die Gegend um den Anhalter Bahnhof und die Dinge spielen mit der Vortäuschung eines besseren Geschehens, das überall stattfindet, nur nicht hier. Hier ist des Unsäglichen Heimat, hier herrscht ‘Rudis Resterampe'. Nie sah man einen Gast in dem Minipizza-Italiener, nie einen Erlösungshungrigen in der St.Lukas-Kirche. Stattdessen schlendern schlagerträllernd Jugendliche die Bernburger Straße rauf und runter. Die werden des Nachts umgebracht oder versinken im schönen Großstadtsumpf der Stadt. Doch der ist woanders.“ Fritz von Klinggräff

Uwe Seidel, Berlin - grenzenlos. Der neue City-Guide für die ganze Stadt und Potsdam. Peter Rump Verlag, Bielefeld, 1991. 337 Seiten,

DM 26,80

Rolf Schneider, Berliner Wege - Wanderungen, Geschichte und Geschichten. Argon Verlag, Berlin, 1992. 167 Seiten, DM 26.-

Berlin - Eine Ortsbesichtigung. Kultur, Geschichte, Architektur. Transit Verlag, Berlin, 1992, 291 Seiten, DM 38.-

Berlin zu Fuß - 18 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart (hg. von Ingeborg Dittmann und Detlef Kuhlbrodt). VSA, Hamburg, 1992 (erscheint im Dezember). 320 Seiten, DM 29.80