: Schwarzfahren 2000 frei?
■ Justizsenator Scherf: Justiz entrümpeln / Bagatelldelikte belasten die Strajustiz
Muß, wer zwei Stationen mit der Bahn schwarz fährt und an einem schwarzen Tag auch noch erwischt wird, wirklich vor den Kadi? Muß, wer kiffen will, wirklich nach dem Betäubungsmittelgesetz verurteilt werden?
Solche Fragen gehen zur Zeit dem Bremer Senator für Justiz und Verfassung, Henning Scherf (SPD), durch den Kopf. Die Strafjustiz ist überlastet, so lautet seine These, und läßt sie diskutieren von Rechtsexperten: Gestern veranstaltete Scherf eine Diskussion um die „Justiz 2000“.
Als Referent war u.a. geladen der Frankfurter Strafrechtler Alexis Albrecht. Albrecht ist ein entschiedener Vertreter der „Entkriminalisierung“ von Bagatelldelikten. Er will „kurzen Prozeß“ im Straßenverkehrsrecht, im Betäubungsmittelgesetz und im Vermögens- und Eigentumsgesetz. Es sei nicht einzusehen, so der Jurist, daß der gesamte Justizapparat ins Rollen komme, wenn bei Karstadt geklaut wird. „Die Strafjustiz wird hier benutzt, um das ökonomische Kalkül, das sich in der lockeren Präsentation der Waren im Kaufhaus niederschlägt, umzusetzen wird.“
Viele Fälle werden als Bagatellen ohnehin bereits eingestellt, erklärte Jurist Albrecht, der gerade in Hessen eine Befragung unter Richtern und Staatsanwälten durchgeführt hat. Sein Anliegen:
Bagatelldelikte überlasten die Bremer Gerichte Foto: Katja Heddinga
die Strafjustiz muß auf die Höhe der Zeit gebracht werden, „weil es sonst nicht effektiv ist.“
Bei Justizsenator Scherf stieß Albrecht damit auf offene Ohren. 40.000 Strafverfahren wurden 1991 von der Bremer Staatsanwaltschaft eingeleitet, 11.000 kamen zur Anklage, in 7.858 Fällen folgte eine Verurteilung. Darunter fielen: 3.407 Aburteilungen wegen Straftaten im Straßenverkehr,
mann im Flur
2.471 Aburteilungen wegen Diebstahls, 321 Aburteilungen wegen BTM, 253 wegen „Erschleichen von Leistungen“: „Die Strafjustiz droht zu ersticken“, resümierte der Senator.
„Alte Zöpfe abschneiden“, fordert Scherf deshalb. Seine Überlegung: Muß eigentlich der Staat eingreifen, wenn ein Mensch ohne gültigen Fahrausweis mit der Straßenbahn fährt? In Hessen und
Niedersachsen liegen jetzt die Ergebnisse von zwei Kommissionen vor, die Vorschläge für die „Entrümpelung des Strafrechtes“ gemacht haben.
Einen Bremer Weg wird es nicht geben, aber: „Wir müssen doch diskutieren, welche Bundesrats-Initiative wir unterstützen wollen“, erklärte der Bremer Justizsenator.
mad
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