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„Es war aber nicht anders möglich“

■ Im sogenannten Waldheim-Prozeß sagt der Angeklagte aus

Leipzig (AP) – Im ersten Prozeß gegen einen Richter der Waldheim-Prozesse von 1950 ist am Mittwoch vor dem Leipziger Bezirksgericht die Anklage gegen Otto Jürgens verlesen worden. Dem 86jährigen früheren Richter wird vorgeworfen, im Sommer 1950 vor einem Sondergericht im sächsischen Waldheim im Schnellverfahren den Staatsanwalt Heinz Rosenmüller wegen dessen nationalsozialistischer Gesinnung zum Tode verurteilt zu haben. Die Staatsanwaltschaft bewertet dies als gemeinschaftlich begangenen Mord. Jürgens muß sich außerdem wegen Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung in weiteren 14 Fällen verantworten.

Rosenmüller, dessen Todesurteil am 4. November 1950 vollstreckt wurde, bekam damals keinen Verteidiger und keinen gesetzlichen Richter. Die Verhandlungen in Waldheim fanden zudem meist unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. „Die Rechte des Angeklagten wurden grob mißachtet“, las Staatsanwalt Helmut Renz aus der Anklageschrift. Das Gericht habe sich damals mit pauschalen Beurteilungen begnügt, ohne eine Schuld Rosenmüllers jemals nachgewiesen zu haben. Der Angeklagte sei nicht wegen konkret nachgewiesener Straftaten, sondern wegen seiner Gesinnung zum Tode verurteilt worden.

In der Befragung durch den Richter sagte Jürgens, daß die Waldheimer Prozesse von der SED gelenkt worden. „Die Partei hat maßgeblichen ideologischen Einfluß darauf ausgeübt“, berichtete der Angeklagte. „Nach meiner Rückkehr aus Waldheim habe ich mich mit Kollegen unterhalten“, berichtete der 86jährige. Bereits zu diesem Zeitpunkt seien Zweifel an der Richtigkeit der Verfahrensweise aufgekommen. „Es war aber nicht anders möglich. Woher sollte man die Zeugen nehmen? Alles war zerbombt, zerschlagen und kaputt.“ Verteidiger waren damals nach Aussagen von Jürgens in Gerichtsverfahren nur selten anwesend. Dann habe er sich gegen die ideologische Beeinflussung von Verfahren durch die SED zur Wehr gesetzt, was ihm scharfe Kritik eingebracht habe. Insgesamt wurden 1950 in Waldheim 32 Todesurteile ausgesprochen. Die Waldheim-Richter sprachen innerhalb von sechs Wochen insgesamt 3.324 Urteile gegen Mitläufer des Naziregimes, Gegner des stalinistischen Systems, zufällig Aufgegriffene und auch einige Schuldige aus. Außer Jürgens leben heute noch acht weitere Waldheim-Richter, gegen zwei von ihnen wurde Anklage erhoben.

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