: Eine „unvermeidliche Anklage“ oder ein „absurder Prozeß“? Auch bei denen, die Honecker gestürzt haben, herrscht Streit über die strafrechtliche „Aufarbeitung“ der DDR-Regierungsverbrechen durch die bundesdeutsche Justiz. Von Matthias Geis
Strafsache Honecker u. a.
„Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen“ – seit heute gilt sie nicht mehr, die Formel, mit der allenthalben die Ungerechtigkeit bei der Verfolgung staatlich begangener Verbrechen beklagt wird. Bislang waren es die niederen Chargen, die als „Mauerschützen“ zur Rechenschaft gezogen wurden. Heute betreten „die Großen“ den Gerichtssaal: Erich Honecker, ehemaliger Staatsratsvorsitzender der DDR, Generalsekretär der SED und Chef des Nationalen Verteidigungsrates, sowie fünf seiner Mitstreiter. Sie werden sich für das Unrecht, das sie politisch zu verantworten haben, ab heute juristisch verantworten müssen. Stellvertretend für den Gesamtkomplex werden ihnen die Todesschüsse an Mauer und innerdeutscher Grenze zur Last gelegt. Die Anklage bezieht sich auf zwölf „Fälle“, zwölf von über zweihundert Menschen, die seit 1961 den Versuch, unerlaubt ihre Heimat zu verlassen, mit dem Leben bezahlten. Der Tatvorwurf an Honecker, Mielke und andere: gemeinschaftlicher Totschlag. Im Gerichtssal als Nebenkläger anwesend sind auch die Angehörigen der Opfer.
Ein beispielloser Vorgang – „ein unerläßlicher Bestandteil der Aufarbeitung“. So sieht es Wolfgang Ullmann, einer der friedlichen Revolutionäre des Herbstes89. Der Prozeß, auch ein später Erfolg der Bürgerbewegung? Der Prozeß ist umstritten, auch bei den Bürgerrechtlern von einst: „Wir sind damals nicht aufgebrochen, um Erich Honecker vor Gericht zu bringen“, widerspricht Bärbel Bohley dem Plädoyer ihres einstigen Mitstreiters. „Die wirklich klugen Leute damals“ seien die gewesen, die „ab ins Altersheim mit Mindestrente“ gefordert hätten.
„Was ich immer am barbarischsten gefunden habe, das waren die Tötungsmaschinen an der Grenze. Da waren Verbrecher am Werk.“ Einen Augenblick zuvor hat Jens Reich Wolf Biermanns Wende- Refrain – „Rente statt Rache“ – kommentiert: „Ja, das stimmt noch immer.“ Die Bürgerrechtler argumentieren mit einem zerrissenen Für und Wider, ein Abwägen von Schuld, Gnade, Wut und Resignation, das sich irgendwie weigert, „zum Punkt“ zu kommen. Altersheim oder Gefängnis?
Nein, die ehemaligen Bürgerrechtler kriegen das nicht auf den Punkt. Dazu bedarf es schnurgerader Persönlichkeiten aus anderer Provenienz. Da ist etwa Hans-Otto Bräutigam, Vorsitzender Richter der zuständigen Strafkammer. Die medizinischen Gutachten zu Honeckers Krebsleiden – prognostizierte Lebenserwartung: maximal anderthalb Jahre – hat er zur Kenntnis genommen. Haftverschonung abgelehnt. Nicht gerade ein Bedenkenträger. Was nicht heißen soll, der Richter mache sich keine Gedanken, beispielsweise über Reanimation. Vielleicht werde gerade der Prozeß dem Angeklagten neue Lebensgeister einhauchen, ergo: Prozeßeröffnung beschlossen.
„Das Gericht wird Sorge tragen, daß den persönlichen Rechten und der Menschenwürde des Angeklagten nicht zu nahe getreten wird“, demonstriert Ullmann rechtsstaatliche Zuversicht. Nicolas Becker, neben Wolfgang Ziegler und Friedrich Wolff einer der drei Honecker-Verteidiger, spricht von „Engherzigkeit“, wenn er daran denkt, wie das Gericht die medizinisch untermauerten Anträge abgeschmettert hat. Sicher, das ist Beckers Job. Aber was eigentlich sprach ernstlich gegen eine Prozeßeröffnung bei gleichzeitiger Haftverschonung? Fluchtgefahr? Verdunkelungsgefahr? Sicherheitsgründe? – Eine ausbalancierte Entscheidung jedenfalls wäre auch von hoher symbolischer Bedeutung gewesen. Sie hätte signalisiert, daß man bei Gericht sowohl zum Abwägen wie zu wirklich souveräner Entscheidung in der Lage ist. Keine schlechte Voraussetzung für ein Unternehmen dieser Kategorie. Der Anspruch auf Strafverfolgung wäre mit der Haftverschonung nicht relativiert, sondern mit einem Zeichen von Fairneß und humaner Zurückhaltung eher bekräftigt worden. Auch Ulrike Poppes Sätze stünden sich dann nicht mehr ganz so unvermittelt gegenüber: „Die politisch Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“ Und: „Gnade wäre angebracht.“
Wir befinden uns in Deutschland. Im Osten hat der Realsozialismus Wunden geschlagen, der Stalinismus aber blieb, bei aller bornierten Härte, anders als in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei des Übergangs, eher moderat. – Hand aufs Herz, wer hätte mit einer anderen, freundlicheren Eröffnung des Prozesses, den sich in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei niemand leisten will und kann, gerechnet?
Anders gefragt: Wie frei ist das Gericht in seinen Entscheidungen? Die westdeutsche Politik jedenfalls hat auf internationaler Bühne schon mal eine Probe gegeben, wie sie die Sache Honecker zu handhaben versteht: die Rückführung, ein Glanzstück selbstgerechter Entschlossenheit aus Macht und Moral. Dem entspricht der politische Erwartungsdruck, der auf dem Prozeß lastet. Wenn nicht alles täuscht, verengt sich der Hoffnungsspielraum für den Ex-Diktator in dem Maße, in dem sich das geglättete Geschichtsbild deutsch- deutscher Vergangenheit etabliert. Die Prinzipienfestigkeit, die es vor 89 im Umgang mit der DDR-Führung nie gab, sie wird heute um so härter gegen deren realpolitisch irrelevante Überbleibsel praktiziert. Aber muß man Honecker wirklich die doppelte Verantwortung aufladen: die für seine Verbrechen und die für die jahrzehntelange, westliche Duldung? Wird Honecker mit der rechtsstaatlich gewagten Konstruktion übergeordneter Menschenrechte am Ende auch dafür verurteilt werden, daß der Westen, im Sinne gedeihlicher Kooperation, bei den alltäglichen Menschenrechtsverstößen in der DDR beide Augen zudrückte? „Der Westen“, so Schult, „vollzieht mit dem Prozeß den demonstrativen Bruch seiner Politik, die immer auf die Machthaber setzte.“ Nachholende Moral am Partner von einst. Verantwortung und Selbstgerechtigkeit, schäbig klar verteilt. Die eine Seite sühnt mit für den historischen Freispruch der andern.
Doch das westdeutsche Verfahrens-Elend, so scheint es, hat sein ostdeutsches Pendant. Ulrike Poppe: „Alle Schuld wird jetzt auf einen Mann konzentriert, mitgemacht hat die ganze Gesellschaft.“ Reinhard Schult pointiert Honeckers letzte Funktion für den Osten: „Prügelknabe zur Erledigung des Themas“. Die Aufarbeitung ist ohnehin längst steckengeblieben. „Jetzt“, ahnt auch Jens Reich, werde eben „der Abschluß“ vorbereitet. „Aber wir werden das immer wieder als Sack vor der Tür liegen haben.“ Und dann probt Reich, mit einem Anflug von Begeisterung, seine „ideale Verteidigungslinie“ – für Honecker: „Die Verantwortungslosigkeit ging bis ganz runter. Alle haben sich einbinden lassen. Mir ist jährlich zugejubelt worden.“ Das ist die Reichsche Prozeßutopie: Honecker, der „seine Sache“ in großer Rede verteidigt und damit die DDR-Bürger erinnert, daß das ja nicht immer, die ganzen Jahre durch, allein „seine Sache“ gewesen ist. „Das wäre ein Schlag gegen uns. Das wäre das Dramatische“, imaginiert sich Reich in die Prozeßszene, von der er weiß, daß sie sich – „schon aus biologischen Gründen“ – nicht mehr zutragen wird.
Bei Reich verschwimmt für einen Moment die Täter-Opfer-Dichotomie. Im Gerichtssal – Honecker den Angehörigen der Maueropfer gegenüber – wird sie wieder sinnfällig. Doch die klare Scheidung gewinnt ihre Wahrheit nur am konkreten „Fall“. Mag sie in politisch-moralischer Hinsicht schon vor Prozeßbeginn außer Frage stehen, im strafrechtlichen Sinne muß das Verfahren die Antwort erbringen; wenn nicht mehr für Honecker, wie seine Verteidiger prognostizieren, dann für seine Mitangeklagten. Doch was für den konkreten „Fall“ in der klaren – am Ende des Prozesses vielleicht auch juristisch sanktionierten – Scheidung von Täter und Opfer mündet, taugt nicht als Gesamtmuster für das Verhältnis der ehemaligen Spitze zum großen Rest. Dennoch wird der Prozeß per se das falsche Muster reproduzieren, weitgehend unabhängig von den Qualitäten der Beteiligten. Denn schon die zwingende Prozeßsituation, das Gegenüber von Angeklagtem und Richter, schafft den symbolisch aufgeladenen Anknüpfungspunkt, an dem sich die Wahrnehmung zugunsten des kollektiven Entlastungswunsches kanalisiert.
Die enorme Bedeutung des Prozesses nach außen – Ost wie West– vermittelt sich als Erwartung in den Prozeß zurück. Es bedürfte schon wahrer Heroen in Roben, um sich davon ganz frei zu machen. Auch das Korrektiv einer einfallsreichen Verteidigung wird es da schwerhaben. Eine nur beschränkt entscheidungsfreie Kammer, ein umstrittenes Grundsatzurteil, das für den Prozeß gegen Honecker wegweisend sein wird, verschlechtern dessen Aussichten. Doch das sind Hypothesen, die sich im Prozeß bewahrheiten werden oder nicht. Eine glatte Verwerfung des Strafverfolgungsanspruches ist daraus nicht zu begründen. Trotz gravierender Indizien, bis zum Beweis des Gegenteils gilt die „Unschuldsvermutung“ – auch für die Richter.
Oder anders: Über den befürchteten, rechtsstaatlich fragwürdigen Kurzschluß zwischen politischer und strafrechtlicher Verantwortung kann sinnvoll erst debattiert werden, wenn er sich im Verlauf des Verfahrens abzeichnet. In diesem Prozeß wird der Tod unschuldiger Menschen verhandelt, die in einem perfide ausgedachten und brutal verwirklichten Grenzsicherungssystem ihr Leben ließen. Von daher gewinnt die Bewertung Wolfgang Ullmanns, der, ohne die Spur einer Irritation, von einer „unvermeidlichen Anklage“ spricht, ihr tragisches Gewicht. Das auch gibt Reinhard Schults allzu lockerer Formel vom „absurden Prozeß“ ihre problematische Färbung.
Bei allem Unterschied der Tatvorwürfe, ihrer juristischen Untermauerung und der beteiligten Personen; wer außer Rechtsradikalen käme auf die Idee, die Berechtigung der Nazi-Prozesse und deren Beitrag zur individuellen wie historischen Aufarbeitung vom Tisch zu wischen? Wie ließe sich aus den absehbaren Schwierigkeiten eines rechtsstaatlich einwandfreien Tatnachweises schon schlüssig urteilen, man solle es erst gar nicht probieren?
„Honecker ist ein Mensch vor dem Tode.“ Damit beschreibt Ulrike Poppe den durch nichts aufzuhellenden Schatten über dem Prozeß. Gleichwohl, ab heute hat das Gericht die Chance, die es sich nicht nehmen lassen wollte. Die Verteidigung hat die Pflicht, die sie im Interesse der Angeklagten am liebsten gar nicht erst wahrgenommen hätte. Doch jetzt floatieren Pflicht und Chance. Das Gericht gewinnt seine Chance nur über ein einwandfreies und großzügiges Verfahren, die Anwälte erfüllen ihre Pflicht, indem sie die Chance zur kreativen Verteidigung nutzen. Beides verdienen Erich Honecker und seine Mitangeklagten.
Daß jetzt nach den Kleinen endlich „die Großen“ hängen sollen, ist eine fragwürdige Metapher. Für diesen Prozeß allemal. Die Kleinen immerhin haben einmal ihre Waffe auf Dauerfeuer gestellt, draufgehalten, abgedrückt. Ihre Strafen werden in der Regel auf Bewährung ausgesetzt, eine Möglichkeit, die im Zusammenhang mit Honecker nur absurd anmutet. Zwar dürfte das Maß an Verantwortung Erich Honeckers mit seiner herausragenden Stellung im damaligen System korrelieren; doch ob er heute auch nur einen Teil davon übernehmen können wird? Hier spätestens beginnt die Verantwortung der anderen, diesmal wohl unsere – die der gesamtdeutschen Öffentlichkeit, Justiz und Politik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen