: Mirwas Traum von einem freien Land
■ Jugendliche auf der Flucht / Rund 3000 leben in Hamburg / Auch unter 16jährige müssen einen Asylantrag stellen
/ Rund 3000 leben in Hamburg / Auch unter 16jährige müssen einen Asylantrag stellen
Er träumt von Kanada. Mit seinen 15 Jahren ist Mirwas davon überzeugt, eines Tages das Geld für die Papiere und ein Ticket zusammenzukratzen. „Mein Vater ist schon dort“, erzählt er stolz, wenn er nach seinen Eltern gefragt wird. Was der junge Flüchtling nicht wahrhaben möchte ist, daß sein Vater im Frühjahr in Afghanistan erschossen wurde und auch die Mutter im Bürgerkrieg umkam. Als seine Mitschüler anfingen, ihn als Waisenkind zu hänseln, ließ Mirwas sich etwas einfallen. Er schickte seine Eltern in Gedanken in ein freies Land.
Der Junge aus Afghanistan ist einer von etwa 3000 alleinreisenden Jugendlichen, die in Hamburg gestrandet sind. Im Amtsdeutsch heißen sie „minderjährige unbegleitete Flüchtlinge“ und kommen aus Kurdistan, dem Iran und Afghanistan sowie zahlreichen afrikanischen Ländern. Einige versuchen es auf eigene Faust, andere werden von Schleppern in die Hansestadt oder nach Berlin geschleust. Allein 350 unbegleitete Jugendliche leben auf den Flüchtlingsschiffen in Neumühlen. Sie sind 16 bis 18 Jahre alt. Die meisten werden nach dem Umverteilungsschlüssel der Bundesländer nach Mecklenburg-Vorpommern weiterreisen müssen.
Nach dem geltenden Ausländerrecht müssen auch Kinder unter 16 Jahren einen eigenen Asylantrag stellen. Dies übernimmt ein gesetzlicher Vormund für sie. „Es ist Unsinn, die Kinder ins Asylverfahren zu schicken“, meint Sabine Kohlhof vom Verein Jugendhilfe, der sich um die Flüchtlingskinder kümmert. „Niemand kann die wahren Gründe für die Flucht der Kinder herausfinden.“
Oft haben die minderjährigen Flüchtlinge keine Vorstellung davon, warum sie hier sind. Um die Kinder nicht zu gefährden, versuchen die Eltern, die tatsächlichen Fluchtgründe vor ihnen geheim zu halten. Die Söhne ahnen nicht, daß sie zum Beispiel in Kurdistan gefoltert werden könnten, um vom Vater ein Geständnis zu erpressen. Die Töchter wissen nichts über drohende Vergewaltigungen. Bei der Ausländerbehörde geben die Minderjährigen im Asylverfahren an, sie hätten sich auf den Weg gemacht, um etwas zu lernen. Das eigentliche Ausmaß der Verfolgung bleibt im Dunkeln. Mitunter sind auch Kinder wohlhabender Familien dabei, die ihren Nachwuchs tatsächlich auf dem Schleichweg zur Ausbildung in die Bundesrepublik reisen lassen.
In den zuständigen Ämtern liegen die Anträge der Kinder auf Halde. Bei den Jüngeren tun sich die Beamten schwer, eine negative Entscheidung zu fällen. Die Kinderkonvention gebietet zudem, daß Kinderflüchtlinge bei einer Abschiebung nicht einfach ins Flugzeug gesetzt werden können, sondern den
1Eltern übergeben werden müssen. Dennoch sitzen in Hamburg einige minderjährige Ausländer in Abschiebehaft, wie die GAL-Abgeordnete Anna Bruns herausfand.
Die Kinderflüchtlinge werden, sofern sie noch keine 16 Jahre alt sind, in Jugendwohnungen und Übergangseinrichtungen betreut. Die Sozialbehörde richtet zur Zeit
1rund 200 neue Plätze für sie ein.
Unter den Neuankömmlingen ist auch der 14jährige Ali, ein Flüchtlingskind aus Kurdistan. Er ist erst seit zwei Monaten hier. Seiner Betreuerin hat er berichtet, daß „etwas Schreckliches“ passiert sei. Sein Heimatdorf wurde von einer Einheit der Militärs überfallen, die sich „Özel tim“ nennt. Bei der Raz-
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zia kam auch das Haus seiner Cousine dran, in dem er aufgewachsen ist. Als die anwesenden vier Frauen keine Auskunft über den Verbleib der Männer geben konnten, legten die Soldaten die Gewehre an und schossen. Die Frauen sind tot. „Ich habe sie sehr gern gehabt“, sagt Ali über seine Cousine. Lisa Schönemann
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