: Keine Medizin ohne Menschlichkeit
■ Das neuerschienene Buch „Die Charité 1945–1992. Ein Mythos von innen“ beleuchtet den Alltag der Renommierklinik der DDR/ Die Mehrzahl der Ärzte stand auf der Seite der Patienten, nicht des Staates
Mitte. Schon als kleines Mädchen hat Rosemarie Kratzat als Tochter eines Laboranten in den Gängen der Charité Ball gespielt. Nachdem sie dort bis zu ihrem Ruhestand als Sekretärin gearbeitet hatte, unterband die Klinikleitung ihre offizielle Verabschiedung. Sie hatte in ihrem Kündigungsschreiben die Absicht erwähnt, in den Westen zu gehen. „So verließ ich nach 38 Dienstjahren die Klinik weinend über die Hintertreppe.“
Ihre Geschichte findet sich in dem neuerschienenen Band „Die Charité 1945–1992. Ein Mythos von innen“ von Rosemarie Stein ebenso wie die des Leiters der Rettungsstelle Dietmar Krausch. Er hatte in einem Brief an die Klinikleitung dagegen protestiert, daß Patienten ohne Totenschein zur Organspende an die Charité transportiert worden waren. „Ich glaube, daß die Transplantationsmedizin hier mehr der Versuch war, das äußerst Machbare unter Beweis zu stellen“, so Krausch.
Auch Anästhesieärztin Isolde Flemming vermutet, „daß ich den Urologen Transplantationen vermasselt habe, weil ich zu streng war mit der Todeszeitbestimmung bei den vorgesehenen Spendern.“ Sie forschte jahrelang an der exakten Feststellung des Hirntods. Ihre Habilitationsschrift wurde trotz hervorragender Gutachten abgelehnt – es fehle das marxistisch-leninistische Denkvermögen.
Rosemarie Stein sagte gestern bei der Vorstellung ihres Werks, ihr sei es nicht darum gegangen, Schuldige und Täter zu entlarven, sondern darum, ein realistisches Bild der Lebens- und Arbeitsverhältnisse an der Charité unter der SED-Diktatur festzuhalten. Aus 40 Interviews läßt sich das Innenleben dieser Institution erschließen. Zu Wort kommen hauptsächlich Erneuerungswillige. Von den Parteileuten und ausgewiesenen Stasi- Mitarbeitern waren lediglich drei IMs zu einer Aussage bereit. Außer einigen Dokumenten hat Stein den Erfahrungsberichten ein Kapitel über die Charité-Recherchen in der Gauck-Behörde hinzugefügt. Sie rechnet mit mehr als 80 Stasi- Mitarbeitern.
„Vor allem hat das Buch gezeigt, daß es entgegen den Befürchtungen nach den Enthüllungen im Sommer 1991 keine Medizin ohne Menschlichkeit in der DDR gegeben hat“, sagte Ellis Huber, Präsident der Ärztekammer Berlin, die die Dokumentation in Auftrag gegeben hatte. Im Gegensatz zur Medizin im Nationalsozialismus habe dies die Ärzteschaft der DDR faktisch verhindert. Die große Mehrheit der Ärzte habe auf seiten der Patienten und nicht des Staates gestanden. „Das Geflecht der Stasi-Mitarbeiter funktionierte in der Welt der Gesunden, unterstützte Karrierismus, Ehrgeiz, Unterwürfigkeit, Gedankenlosigkeit und Opportunismus.“ Doch gnadenlosen Ehrgeiz, Karrierismus und seelenlose Technokratie gebe es im Westen genauso. Die Verlockung durch politische Willfährigkeit sei hier den materiellen Verlockungen vergleichbar. Das Buch könne als Spiegel dienen, in dem die Verführbarkeit von Medizin und Ärzten sichtbar werde. cor
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