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Fiese Bisse, häßliche Narben

Stammesfehden in der Ethnofilmszene  ■ Von Dorothee Wenner

Ein früher Sonntagmorgen im Hamburger Museum für Völkerkunde. Etwa 40 Ethnologen und Ethnologiestudenten sitzen auf 30 Stühlen und gucken einen Film über Voodoo und Zombies auf Haiti, der im Auftrag des SWF für die Fernsehserie „Magische Welten“ produziert worden ist. Nach dem Abspann setzt sich Niels-Jens Albrecht, der wissenschaftliche Berater des Films, neben den Fernseher und erzählt von den Dreharbeiten. Fürchterlich sei es gewesen, denn der Filmemacher habe seine ethnologischen Ratschläge fortwährend ignoriert, habe sich den Einheimischen gegenüber unmöglich verhalten und sich am liebsten desinteressiert ins klimatisierte Hotelzimmer zurückgezogen. Da der Regisseur Ulrich Stein bei der Diskussion nicht anwesend war, blieb seine Darstellung des Konflikts während der Dreharbeiten ungehört. Stein hatte den Film als „Freier“ produziert und schlitterte mit jedem Drehtag dem Bankrott etwas näher. Stein: „Erst konnten wir wegen des Generalstreiks tagelang das Hotel nicht verlassen. Und dann entpuppte sich der Voodoo-Priester, den wir durch Albrecht kennengelernt hatten, als ein überaus cleverer Geschäftsmann. Wir hatten zwar einen Vertrag mit ihm ausgehandelt, aber daran hat er sich nicht gehalten und forderte jeden Tag, für jede kleine rituelle Handlung mehr Geld – und das hatten wir einfach nicht.“

Was hätte nähergelegen, als an diesem Beispiel das heikle Thema der Gagen für Ethnographierte zu diskutieren? Statt dessen eröffnete Albrecht eine Art Tribunal, an dessen Ende dem Film die „Wissenschaftlichkeit“ aberkannt wurde. „Viel zu hippelig“ sei die Montage, sie „überschreitet moralische Grenzen“. Die Empörung, so schien es, richtete sich aber nicht allein gegen diesen einen Film, sondern gegen den – erfolgreichen – Ausbruchsversuch aus der Enge eines selbstgestrickten Regelwerks deutscher Ethnofilmer. Stein hat in seinem Voodoo-Film weder ignoriert, daß sich das Wissen des Fernsehpublikums vor allem aus dem Horror-Genre speist, noch versucht er die wilden Bilder von Trance und Ekstase zugunsten einer biederen Hygiene-Ästhetik dem Zuschauer vorzuenthalten. Dabei ist ein Film entstanden, der vielleicht kein Meilenstein ethnographischer Filmkunst ist, aber beweist, daß das Kennenlernen fremder Kulturen via Fernsehen nicht unbedingt ein einschläfernder Einschaltquotenkiller sein muß.

Das wurmte den wissenschaftlichen Berater offenbar. Als handele es sich um ein explosives Geheimnis, pries Albrecht mit einem undurchschaubaren Lächeln seine eigenen Videoarbeiten aus Haiti als die echten, die wertvolleren Voodoo-Dokumente an. Zeigen wollte er sie allerdings nicht – mit der Begründung, das sei „niemandem zuzumuten“. In Zukunft, das nahmen die Ethnologen als wissenschaftlichen Fernsehberater in spe mit auf den Weg, sollte man sich vertraglich ein größeres Mitspracherecht sichern. „Damit der Ethnologe gegebenenfalls den Finger drauflegen und sagen kann: Dieser Stil, der paßt mir nicht!“

Nicht nur die stillschweigende Akzeptanz solcher paradoxen Argumente ließ den Verdacht wachwerden, bei der Konferenz der „AG Visuelle Anthropologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde“ handele es sich in Wirklichkeit um ein Sektentreffen. Denn felsenfest verankert schien in dieser Gemeinschaft auch noch immer der Glaube, mit filmischen Mitteln die Lebensweise fremder Kulturen wissenschaftlich-objektiv festhalten zu können. Dabei ist es nicht einmal notwendig, sich über die zwangsläufige Subjektivität jedes Kamerawinkels, jedes Schnittes oder Motivs klarzuwerden. Allein die Vorstellung, welches Tohuwabohu zwei oder drei bundesdeutsche Filmemacher mit ihren empfindlichen Kodakdosen, mit ihren Tonbändern und Kulturbeuteln in den „unberührten“ Gegenden dieser Welt stiften, dürfte die Objektivität ethnographischer Filme für immer ins Reich der Wissenschaftsmärchen überführen. Solcher filmtheoretischen Gemeinplätze ungeachtet, gelten bei den filmenden Völkerkundlern zum Beispiel close-ups als „emotional-subjektiv“ und damit als unwissenschaftlich, während minutenlange, halbtotale Einstellungen „objektiv“ gewertet werden, weil sie dem Zuschauer die Möglichkeit lassen, sich in eine Situation „hineinzuversetzen“.

Diese und viele andere absurde Richtlinien für den ethnographischen Film sind nicht zuletzt dem Göttinger „Institut für den wissenschaftlichen Film“ (IWF) zu verdanken. Dort ruht die „Encyclopedia Cinematographica“ (EC), eine kilometerlange Ansammlung wissenschaftlicher Filme aus den Bereichen Naturwissenschaft, Medizin, Geschichte – und Ethnologie. Nach dem Brockhaus-Prinzip können Lehrer und Dozenten im IWF Anschauungsmaterial für ihre Schüler beziehen. Über das Flugverhalten von Graugänsen, über Herz-Lungen-Wiederbelebung – oder eben auch Wissenswertes über andere Völker, andere Sitten. Seit 1952 werden von Göttingen aus Kameraleute in die weite Welt geschickt, um zu dokumentieren, wie in Westafrika Peddigrohrkörbchen geflochten oder in Sumatra Babies gebadet werden.

Doch vor kurzem, auf der 40.Jahrestagung des IWF-Redaktionsausschusses, erkannten die Wissenschaftler, daß die Musealisierung der Welt nach dem Setzkastenprinzip heutigen Sehgewohnheiten nicht mehr entspricht. Ein Gerücht kursierte gar, daß diese Einsicht nur eine späte Reaktion auf die Tatsache gewesen sei, daß die Enzyklopädie so wenig genützt würde, daß man über eine Einstampfung der verstaubten Filme nachdenke. Das sei aber nicht wahr, versicherte die IWF-Pressesprecherin. Allerdings habe man jüngst eine Kurskorrektur für die Produktion und die Ankaufspolitik des ethnographischen Films beschlossen. Die Zehn-Punkte-Regeln, wie sich IWF-Filmer beim Ethnographieren in unsichtbare Mäuschen verwandeln sollen, gelten nicht mehr. „Wissen Sie, eine Gesellschaft schnitzt sich ihre Pfeifen ja nicht unabhängig von dem, was sonst noch passiert.“

Der Sprung in die Theorie der Sixties ist damit gelungen, und prompt verspricht das IWF für die Zukunft, seine zwölf Millionen DM Jahresetat in „mehr Narration, mehr Facetten“ zu investieren. „Wir sind jetzt offen für verschiedenste Ansätze“, verkündet die zuständige Referentin Beate Engelbrecht lebensfroh und zuversichtlich, obwohl sie weiß, daß es in der Ethnofilmszene „viele Leute gibt, die die Enzyklopädie gerne sterben lassen würden“. Das IWF wird sich ab sofort ein neues, progressives Image zulegen, auch ein Ethnofilmfestival ist geplant. Beate Engelbrecht: „Aber wir sind – theoretisch – nun mal eine ,Vollzugsanstalt‘ und damit abhängig von Impulsen aus der Hochschule.“

Das Institut für Allgemeine Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin könnte sich angesprochen fühlen. Dort wird in diesem Semester ein öffentliches Seminar zur „Ästhetik des ethnographischen Films“ angeboten. Im großen Kinosaal des Hauses der Kulturen der Welt stehen jeden Dienstag Klassiker des Genres auf dem Programm, darunter die Kultfilme des Altmeisters Jean Rouch, dem „Erfinder“ des cinéma vérité. Rouch kam als erster auf die Idee, die Kamera in bestimmten Situationen provozierend oder verstärkend einzusetzen – und nicht länger so zu tun, als wäre der Kameramann nicht da.

In vieler Hinsicht konträr entwickelte sich, ebenfalls in den Sechzigern, in den USA das direct oder uncontrolled cinema. Richard Leacock, D.A. Pennebaker und Al Maysels gehören zu den wichtigsten Vordenkern und Praktikern dieses Stils. In ihren Filmen sollen die Zuschauer das Gefühl haben, an Ereignissen teilzuhaben, die sich ohne Anwesenheit des Kamerateams genauso zugetragen hätten. Was einst als Revolte gegen die Methoden der Fernsehreportage begann, ist 30 Jahre später zur fast verbindlichen Methode der Redakteure von ABC bis NDR geworden.

Auch zwei Filme von Robert Gardner hat Seminarleiter Philippe Despoix ausgewählt. Gardner, ein begnadeter Kameramann, begeht in „Rivers of Sand“ eine akademische Todsünde, die in der Ethno-Szene stürmische Diskussionen auslöste. Sein Film bemüht sich nämlich nicht um wissenschaftliche Distanz und Ausgewogenheit, sondern nimmt mit einer brillanten Cinematographie Partei für die Frauen – gegen eine jahrhundertealte Tradition. Kurzum: Das Seminar zur „Ästhetik des ethnographischen Films“ im Haus der Kulturen der Welt zeigt ein überaus sehenswertes Programm und bietet Berlinern eine längst überfällige Einführung in die Geschichte dieses Genres.

Bezeichnenderweise hat Philippe Despoix überhaupt nicht an das IWF als Filmlieferant für sein Programm gedacht, so groß und tief ist die Kommunikationskluft zwischen den Parteien, die eigentlich eng zusammenarbeiten müßten, um gute ethnographische Filme zu produzieren. Despoix, der als Theoretiker vielleicht jene Impulse liefern könnte, nach denen es Frau Engelbrecht verlangt, versteht sich allerdings auch nicht als Brückenbauer zur Welt der Praxis.

Das Fernsehen, also der Hauptproduzent ethnographischer Filme, kommt als Forschungsgegenstand für ihn nicht in Frage, weil dort nur ein „Kinderpublikum“ bedient werde. Und Gedanken über eine eventuelle Zusammenarbeit mit ernst zu nehmenden Filmemachern verblassen für Despoix als Utopie, weil dafür, wie immer, kein Geld da ist. Aber vielleicht liegt es auch ein wenig an disparaten Blickwinkeln, denn wenn der Seminarleiter mit seinen Studenten darüber diskutiert, ob ein schneller Schnitt „an dieser Stelle berechtigt“ sei, wird jeder Filmemacher, jede Cutterin auf der Stelle beleidigt den Saal verlassen. Film bleibt hoffentlich als Film- Kunst der Ästhetik mehr verpflichtet als einer im nachhinein entwickelten Filmtheorie. Wer würde einen Schriftsteller wohl fragen, ob die Syntax seines Textes „berechtigt“ sei?

Die eher finsteren Nachrichten aus der Ethnofilmszene können einen recht melancholisch stimmen, vor allem, wenn man die deutsche Situation beispielsweise mit Japan vergleicht, wo moderne ethnographische Filme zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden. Oder mit den USA, wo das New Yorker „Margaret-Mead-Festival“ dank eines stark gegenwartsbezogenen Konzepts mittlerweile so viel Zuspruch findet, daß allabendlich vier große Kinosäle gefüllt sind und das Festivalprogramm mittlerweile erfolgreich durch Amerikas Universitätsstädte tourt.

Doch ein paar Lichtblicke gibt es auch bei uns, zum Beispiel im Hamburger Museum für Völkerkunde. Der neue Direktor Wulf Köpke ließ an die Fassade seines Hauses das „Alle sind Ausländer – Fast überall“-Plakat heften und signalisiert damit, daß moderne Völkerkunde sehr viel mit Völkerverständigung zu tun haben kann. Und deswegen gibt es im Hamburger Museum seit Anfang Oktober einen Filmclub, auf dessen weiteres Programm man gespannt sein darf.

Auch das Kommunale Kino Freiburg müht sich seit langem schon darum, den Dialog zwischen Ethnologen, Filmemachern und interessiertem Publikum zu fördern, und veranstaltet alle zwei Jahre ein von der EG gesponsertes Film-Foum. Vielleicht bedarf es einfach mehr solcher Filmclubs, Seminare und Festivals, um die ethnischen Konflikte in der Ethnofilmszene irgendwann beilegen zu können. Dem einheimischen Publikum wäre es zu wünschen.

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