: „Die Kinder müssen zur Ruhe kommen“
Kinderhaus Fuchsstein ist in seiner Konzeption bedroht: Den vom Bezirk geplanten Umzug in eine große anonyme Einrichtung betrachten die Erzieher als pädagogischen Rückschritt ■ Von Marlies Wiedenhaupt
Berlin. Hühner flitzen durch das Herbstlaub, Enten gackern, und Gänse schnattern in dem großen Garten des heilpädagogischen Heimes „Kinderhaus am Fuchsstein“ in Frohnau. Im Teich schwimmt neben Goldfischen und Wasserpflanzen eine Holzkiste, die eines der Kinder da hineingeworfen hat. In der lichtdurchfluteten Küche im Haus erwartet die Köchin „ihre“ acht Kinder, die bald aus der Schule kommen. Insgesamt wohnen hier im Fuchssteiner Weg, in einem Gebäude, das sich äußerlich nicht von den anderen Einfamilienhäusern dieser Wohngegend unterscheidet, fünfzehn Kinder. Sie sind in zwei Gruppen aufgeteilt und haben je eine eigene Küche und eine eigene Köchin. Aber gespielt wird gemeinsam.
Die Acht- bis Siebzehnjährigen, unter ihnen sieben Sonderschüler, leben teilweise seit Jahren hier. Tag und Nacht werden sie von Erziehern im Schichtdienst betreut. Viele von ihnen zeigten bei ihrer Einweisung starke Spuren von Milieuschädigungen oder Verwahrlosung: Es hatte sich einfach niemand um sie gekümmert. Manche kommen aus Alkoholikerfamilien, oft besteht der Verdacht auf sexuellen Mißbrauch. Eins der Mädchen zum Beispiel, das im Elternhaus „überbehütet“ und vermutlich sexuell mißbraucht wurde, war so verstört, daß es drei Wochen brauchte, um den zehnminütigen Weg vom Heim zur Schule alleine bewältigen zu können. Demnächst muß mit ihr wohl ein neuer Schulweg eingeübt werden, denn das Kinderhaus am Fuchsstein soll umziehen.
Bei vielen Kindern werde dadurch eine monatelange Arbeit zunichte gemacht, befürchtet ein Mitarbeiter des Heimes. Neue Adresse ist dann das „Kinderheim Waidmannslust“ in der Nimrodstraße, ein großer verschachtelter Neubau – ein absoluter Gegensatz zum bisherigen Haus. „Das Gebäude provoziert schon durch seine Optik Aggressionen“, ist ein Erzieher des „Fuchsstein“ überzeugt, „durch die langen, neonbeleuchteten Flure, die graffitibeschmierten Wände, die eingeschlagenen Lampen. Das ganze Gelände ist unübersichtlich.“
Hier in der Nimrodstraße soll jetzt eine „Neue pädagogische Einheit“ entstehen. Das „Kinderheim Waidmannslust“ leidet schon lange unter chronischer Unterbelegung und ist in der bestehenden Form für den Bezirk Reinickendorf finanziell nicht tragbar. „Als verantwortlicher Stadtrat konnte man so nicht weiterwursteln“, erklärte Bezirksstadtrat Wolfgang Brennecke (SPD). Insgesamt sind in dem neuen Konzept neunzig Plätze vorgesehen: Innerhalb des Hauses sechzehn heilpädagogische Plätze für die Kinder aus Frohnau, acht für eine Notgruppe, also für Jugendliche und Kinder in Krisensituationen und zwölf Plätze für eine sogenannte Schichtarbeitergruppe, das heißt für die Kinder von alleinerziehenden Schichtarbeitern. Die verbleibenden Plätze verteilen sich auf betreute Wohngemeinschaften und betreutes Einzelwohnen.
Das Ziel dieses neuen Konzeptes ist, „Heime, wie wir sie heute kennen, überflüssig zu machen“, so der Stadtrat. Das Heim in der Nimrodstraße sei eigentlich nur als Übergangslösung zu betrachten, bis für jedes einzelne Kind eine Erziehungsplanung erarbeitet sei und es wieder ausgelagert werden könne. Wann das sein soll, ist aber derzeit nicht abzusehen. Die Pädagogik solle möglichst in der Familie ansetzen oder habe „zumindest im Kiez stattzufinden“, ist Brennecke überzeugt. Das sei das Milieu, in das die Kinder sowieso wieder zurück müßten. Es sei unrealistisch, ihnen durch das Leben am Stadtrand „das ganze Jahr Urlaub vorzugaukeln“.
Die Mitarbeiter des „Fuchsstein“ sind da anderer Meinung. „Die heilpädagogische Konzeption ist doch darauf ausgerichtet, daß die Kinder 'mal zur Ruhe kommen. Weit weg von ihren Eltern und ihrem Milieu sollen sie lernen, den Alltag zu trainieren.“ Deshalb sehen die Erzieher bei einem Umzug nur Nachteile. Kontakte zu Freunden und Mitschülern könnten nicht aufrechterhalten werden, und in der Nimrodstraße würden sie durch die „Notgruppe“ wieder mit milieugeschädigten Kindern zusammenkommen. Das Haus, in dem sich auch noch eine Kita mit 120 Plätzen, eine Behindertenwerkstatt und ein Jugendwerkhof befinden, biete „zu viele Schlupfmöglichkeiten“, so die Kritik eines Erziehers. „Da kann schnell mal einer verschwinden und sich vor Schularbeiten drücken.“
Insgesamt müsse der Umzug in die Nimrodstraße als pädagogischer Rückschritt angesehen werden. Oft würde die Familienfürsorge, wenn sie für ein Kind einen Heimplatz sucht, betonen, daß „eine kleine überschaubare Einrichtung unbedingt notwendig sei.
„Je größer eine Einrichtung ist, umso weniger wird die Eigenverantwortlichkeit der Kinder gefördert“, pflichtet Bärbel Jung, Sachbearbeiterin für den sozialpädagogischen Bereich bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), den Erziehern bei. „Und mit familiären Strukturen hat man immer bessere Erfahrungen gemacht.“
Der Senator für Jugend und Familie, Thomas Krüger (SPD), habe dem Projekt zugestimmt, so dessen Sprecher Schilling, da man generell dafür sei, Heimplätze zugunsten anderer Wohnmöglichkeiten abzubauen. Ein unübersichtliches Gebäude sei indessen nichts, was man Kindern nicht zumuten könne.
Nach einem Umzug in die Nimrodstraße wird für die Kinder auch die Beziehung zur Köchin wegfallen: In einer Großküche wird dort für rund 500 Reinickendorfer Kita- Kinder gekocht. Mit der „Neuen pädagogischen Einheit“ geht ein Personalabbau von 26 Stellen einher: Darunter Köchinnen, Putzfrauen, ein Heimleiter und 17 Erzieher. Der Umzug soll bis spätestens 1. Januar 1994 erfolgen. Das Grundstück im Fuchssteiner Weg soll dann für eine Kindertagesstätte genutzt werden.
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