: Osteuropa nach dem Holocaust – unter diesem Motto stehen die sechsten Jüdischen Kulturtage in Berlin. Gezeigt werden keine musealen Stücke jüdischer Tradition. Im Gegenteil. Die Diskussion wird bestimmt von der Auseinandersetzung mit der jüdischen Gegenwart. Von Mariam Niroumand
Deutsch-jüdisches Coming-out
Kaum eine Ausstellung im Deutschland der Nachkriegszeit war so heftig umkämpft wie die „Jüdischen Lebenswelten“, die zu Beginn des Jahres im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen war. Sie traf einen zentralen Nerv: Zum ersten Mal wurden Juden in Deutschland nicht nur durch museale Judaica-Sammlungen oder durch Bilder von ihrer Vernichtung dargestellt, sondern durch Gemälde, Polemiken, Baustile oder Filme, aus denen ihre Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Kultur deutlich wurde.
Von den Kritzeleien Walter Benjamins über die Singer-Nähmaschine bis hin zu einem koscheren Bäcker in Marokko oder einer Synagoge aus Kaifeng in China; fast eine halbe Million Besucher sahen erstmals statt des zwanghaft reproduzierten Bildes vom „nebbichten“ Juden ein Panorama jüdischer Kulturleistungen, sie erfuhren in Filmen und Lesungen etwas über die Zerreißproben der jüdischen Moderne.
Seit dieser Ausstellung, so scheint es, ist das deutsch-jüdische Verhältnis nicht mehr, was es so lange war. Seither steht antisemitischen Vandalismen ein Boom an Judaica und eine Nostalgie gerade für die untergegangenen jüdischen Lebenswelten im Osten Europas gegenüber.
Die diesjährigen Jüdischen Kulturtage setzen die Diskussionen um das ritualisierte Erinnern fort. „Wir wollen Hitler nicht eine Perfektion zusprechen, die er nicht erreicht hat“, sagt Jerzy Kanal, Vorsitzender der Berliner Jüdischen Gemeinde. „Wir stellen jüdisches Leben in Osteuropa nach dem Holocaust dar, um verklärte oder negative Vorstellungen durch Reales zu ersetzen. Die jüdischen Lebenswelten in Osteuropa sind eben nie völlig untergegangen, es gab immer eine gewisse Kontinuität.“ Was durch die „Jüdischen Lebenswelten“ in Gang gesetzt wurde, nämlich die Auseinandersetzung mit der jüdischen Gegenwart, soll, so der Organisator Andreas Nachama, „auf den Kulturtagen mit ihren zwischen Ost und West wechselnden Schwerpunkten in einer Art Detailaufnahme verdichtet werden“.
Herzstück der Veranstaltungsreihe ist eine Fotoausstellung im Amerikahaus, die Aufnahmen des amerikanischen Fotografen Edward Serotta zeigt, der jahrelang Osteuropa vor und nach der Öffnung der Grenzen bereist hat. Seine Bilder sind sowohl Dokumente eines zähen, gegen Armut und Ausdürrung sich durchsetzenden Gemeindelebens als auch stumme Memento mori. Er hat David Levy, den einzigen Juden in Senec, einer Kleinstadt im Westen der Slowakei, vor der verriegelten Synagoge entdeckt; den aufgeregten Arnost Goflam, Leiter eines tschechischen Avantgarde-Theaters, vor einer Aufführung von Kafkas „Prozeß“; verzückte Teenager beim Chanukka-Schwof, Hebräisch-Unterricht bei Funzellicht in einer Privatwohnung oder einen mit Farn überwucherten jüdischen Friedhof.
Ob in Rumänien, Bulgarien, Polen, Ungarn oder den slowakischen Republiken, ein Phänomen hat Serotta überall angetroffen: Die Demokratiebewegungen fördern auch einen neuerlichen Antisemitismus zutage. Viele Juden über Sechzig halten sich an die Erinnerung, daß er unter den kommunistschen Regierungen zumindest offiziell gebannt war, und weigern sich, den neuen Antisemitismus zur Kenntnis zu nehmen. „Andererseits“, kommentierte der Moskauer Schriftsteller Michail Gorelik, „hat uns der Pamjat (antisemitische, rassistische Organisation in Rußland, d. A.) auch in gewisser Weise geholfen: Ohne Antisemitismus findet man nicht zu einer jüdischen Identität.“
Das jüdische „Coming-out“, das zur Zeit in Osteuropa zu beobachten ist, führt auch zu einer bemerkenswerten Renaissance von Texten, die für westliche jüdische Intellektuelle in den vierziger Jahren maßgeblich waren. Sartes „Reflektionen zur Judenfrage“ von 1947, in der er „den Juden“ als ein Konstrukt des Antisemiten charakterisierte und die Juden zur Annahme eines authentischen Jüdischseins und zur Ablehnung eines liberalen Universalismus aufforderte, verzeichnet eine Rekordnachfrage. „Im Moment“, resümiert Gheorghe Schwarz, Schriftsteller aus Bukarest, „stehen Juden vor vier Alternativen: Entweder halten wir uns an die Tradition – die einem immerhin eine klare Identität gibt. Oder wir werden Zionisten; was schon nicht mehr ganz so einfach ist. Oder man definiert sich über den Antisemitismus und überläßt ansonsten die jüdische Frage einfach der Assimilation. Schließlich bleibt noch der von Sarte vorgeschlagene Weg der ,einsamen Selbsterneuerung‘ als Jude.“ Henryk Broder pariert flugs: „Damit sind wir wohl wieder bei Theodor Herzl“, der Anfang des Jahrhunderts den demokratischen jüdischen Staat forderte.
Das Publikum der Jüdischen Kulturtage ist genauso gemischt, wie sich die Veranstalter das wünschen. Die russischen Juden frequentieren die Varieté-Künstler aus Moskau (eine Art Friedrichstadtpalast- Revue mit Barockfrisuren, Plaste- Glimmer und Schunkel-Jiddisch); Amerikaner, Israelis und Deutsche treffen sich bei den „Klezmatics“, einer Band aus dem New Yorker East Village, die gemeinsam mit der Grand Dame Chava Alberstein aus Israel ein wildes Gemisch aus russischen Balalaikas, jemenitischen Flöten, Schtetl-Geigen und Jazz-Trompeten zusammenkochten. Ein jugendliches Publikum, manche durchaus in Palästinenser-Tüchern, strömt zu Karsten Troyke, einem nichtjüdischen Ostberliner Sänger, der von einer alten Dame in der Nachbarschaft perfekt Jiddisch gelernt hat und nun ohne jede verquaste Ghetto-Romantik alte und neue Stikl schmettert.
So löst sich, von den applaudierenden und mitsingenden Teilnehmern fast unbemerkt, auf beiden Seiten die Fixierung auf den Holocaust.
Bei der Podiumsdiskussion zur Ausstellungseröffnung warnten sich die jüdischen Podiumsteilnehmer gegenseitig, daß der Holocaust nicht zur Ersatzreligion für Sekularisierte werden darf. Die Nichtjuden bewegen sich vorsichtig auf die Terra incognita zu, auf der zum Beispiel ein Streit mit einem jüdischen Musiker wie John Zorn über dessen Begriff von „Radical Jewish Culture“ möglich wird. Selbst der Berliner Kultursenator Roloff-Momin konnte bei der Eröffnungsveranstaltung auf jede Gedenk- und Mahnformel verzichten und reichte schlicht die sozialdemokratische Hand zum Bündnis gegen Rassismus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen