Ortsbesichtigung: LiteraturWERKstatt

Im alten Klubhaus des DDR-Schriftstellerverbandes wird wieder kontrovers über Literatur diskutiert  ■ Von Stefan Bruns

Der unverändert radikale DDR-Chic läßt westliche Augen nostalgisch leuchten. Die LiteraturWERKstatt im ehemaligen Schriftsteller-Klubhaus in Pankow mit ihrer unverwechselbaren, historisch gewordenen Innenausstattung ist inzwischen ein stadtbekannter Ort. Jeder kennt aber auch die Schwierigkeiten, die alte Villa im noch immer abgelegenen „Klein-Wandlitz“ überhaupt zu finden. Die Adresse Majakowskiring weckt gemischte Erinnerungen. In Pankow lebte Johannes R. Becher, hatte Wilhelm Pieck seinen Amtssitz. In unmittelbarer Nachbarschaft wohnen noch immer Egon Krenz und Lotte Ulbricht. Heute spazieren Treuhand- Chargen im Schloßpark nahebei.

Das Haus Nummer 46 war 1936 auf enteignetem jüdischem Grund von einem nationalsozialistischem Fabrikanten erbaut worden. 1946 wurde auch der enteignet – von der Roten Armee. Später bezog Otto Grotewohl, erster Ministerpräsident der DDR, Haus und Garten, 1980 erhielt der Schriftstellerverband Berlin/DDR die Villa als Klubhaus – zur Belohnung dafür, daß er 1979 Klaus Schlesinger, Jurek Becker und Kollegen wegen eines kritischen Briefes an Erich Honecker aus dem Verband ausgeschlossen hatte. Christa Wolf weigerte sich deshalb über Jahre, das Klubhaus zu betreten. Als sie 1991 erstmals kam, war das ein Ereignis. Für Hermann Kant gibt es am Majakowskiring kein Heimspiel mehr.

Die Geschichte lastet auf dem Haus – zugleich ist es Antrieb, allabendlich dem Muff des „historischen“ Interieurs einen anderen Geist einzuhauchen.

1991 hatte sich der Verein „Literaturbrücke“ gebildet, um aus dem exklusiven Debattier-Klub für linientreue Privilegienempfänger einen lebendigen Treffpunkt für Literaten, Kritiker und vor allem für ein breites Publikum zu machen. Daß es ein offenes Haus wird, ist ein Hauptanliegen der neuen Leiter, Thomas Wohlfahrt und Margit Manz. Der Erfolg gibt ihnen recht. Die LiteraturWERKstatt wird von einem wachsenden Publikum angenommen.

Heute ist das Haus am Majakowskiring eine senatsnachgeordnete Einrichtung. Sie soll aber – wie das Literaturhaus Fasanenstraße und das Literarische Colloquium – in die Vereinsträgerschaft übergehen. Davon versprechen sich Thomas Wohlfahrt und Margit Manz weniger Bürokratie, mehr Verfügungsfreiheit über den Haushalt und nicht zuletzt, daß drei zusätzliche, längst bewilligte, aber durch den Sparbeschluß im öffentlichen Dienst noch vakante Stellen besetzt werden können. Auch das „Problem“ der für Senatsgebäude obligatorischen Beflaggung wäre dann wohl vom Tisch.

An die Stelle der tradierten Einzellesung treten in Pankow diskursive Formen und mehrmediale Vermittlungsweisen. Die LiteraturWERKstatt ist zugleich Ausstellungs- und Aufführungsort, wobei großer Wert auf den inneren Zusammenhang von Texten und Bildern, Gedichten und Gesängen gelegt wird. Es geht um die Beziehungen zwischen den Einzelkünsten, Ausgangspunkt soll immer die Literatur sein. Vor allem am Unfertigen entzündet sich das Interesse.

Einem Theaterautor mit einem neuen Text einen ersten szenischen Versuch zu ermöglichen – darin sieht Wohlfahrt eine wichtige Funktion, die die LiteraturWERKstatt erfüllen kann. „Hier kann man mal probieren – auch mit dem Ergebnis, ein Text sei nicht zu dramatisieren.“ Die Bezeichnung „Werkstatt“ richtet sich ostentativ gegen die Auffassung des künstlerischen Werks als unveränderliches Endprodukt.

Ein großer Teil des Veranstaltungsprogramms ist der Literatur anderer Länder vorbehalten. In den ersten 14 Monaten der Ära stellten etwa 350 AutorInnen ihr Werk vor und zur Diskussion, davon 140 aus dem Ausland. Auf dem Programm standen Tage der estnischen, der irischen Literatur sowie der Literatur der französischen „Oulipisten“. 1993 folgen Tage der Literatur aus den Commonwealth-Ländern, aus der Schweiz, aus St. Petersburg.

Mit einem starken Lyrik-Schwerpunkt spricht Wohlfahrt vor allem die Ostberliner Literaturszene an, weil die „immer viel mehr Lyrik gelesen hat und noch immer liest“. Es findet sich ein diskutierwilliges Publikum ein, das nach der Textästhetik und nicht nach der Befindlichkeit des Autors fragt. Besonders zu erwähnen ist die Reihe „Die Jahrzehnte“, wo Autoren jeweils ein eigenes und ein anderes Gedicht vorstellen, welche in ihren Augen ein Jahrzehnt repräsentieren. Davor hat, so Wohlfahrt, jeder Autor zunächst Angst, doch ergeben sich aus den dabei erzählten Geschichten ganz besondere, ausdrucksstarke Geschichtsbilder. Am 11. Dezember sind Stephan Hermlin und Adolf Endler zu Gast.

Die neue Konzeption der LiteraturWERKstatt ist nicht elitär, zeugt aber von einem hohen Anspruch an die eigene Arbeit wie an die Diskussionen und Autorenbegegnungen. Zunächst waren spektakuläre Begegnungen anberaumt, Treffen wie sie die Geschichte des Hauses geradezu verlangt: Kant mit Schorlemmer, Sascha Anderson und Wolf Biermann. Das Ergebnis dieser Abende aber enttäuschte Wohlfahrt und Manz, im wesentlichen seien das Medienereignisse gewesen. Für eine Aufarbeitung, die Fronten aufbreche, fehle wohl noch die Distanz. „Jahrzehnte“-Diskussionen jedenfalls, die sich auf einen Vierzeiler beschränken, seien ertragreicher. Doch wo, wenn nicht hier, soll die Geschichte des Schriftstellerverbandes, der beiden deutschen PEN-Zentren, der „Literaturgesellschaft DDR“ diskutiert werden? Eine andere Reihe widmet sich dem Profil und der Geschichte von Literatur- und Kulturzeitschriften. Den Anfang hatte das Kursbuch gemacht, am 10. Dezember ist die in ihrer Existenz bedrohte Neue deutsche Literatur dran.

Mancher hat den Eindruck, die LiteraturWERKstatt sei in ihrer Themen- und Referentenwahl „ostlastig“, ein Eindruck, der sich zählbar widerlegen läßt. Sieht man sich die Themen an, fällt hingegen auf, daß die LiteraturWERKstatt gerade jene Literaturen aufs Podium holt, die sowohl in der DDR als auch für die westdeutsche Linke („Revisionismus!“) lange tabuisiert waren, ja noch sind: Rußlanddeutsche, estnische Literatur, deutschpolnische Schlesientage. Selbst wenn da viele Vertriebene polemisieren, begrüßt Wohlfahrt die Katalysatorfunktion der Literatur. Mit den Tagen kaukasischer Literatur will er sich „den Bürgerkrieg ins Haus holen“. Da läßt sich die Diskussion gewiß nicht auf rein literarische Fragen begrenzen. Lieber ist es Wohlfahrt, etwas „mit den Mitteln zu tun, die man hat“, als eine „Soli-Veranstaltung“ zu organisieren, wo sich alle einig sind – und meint die Lesungen in Asylbewerberheimen.

LiteraturWERKstatt Berlin, Majakowskiring 46/48, Pankow