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Lieferverkehr – Abfall unserer Produktion

Serie: Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (vierte Folge)/ Rollende Lagerhallen verstopfen die Straßen – Kollaps durch Baustellenverkehr für Olympia und Hauptstadtausbau  ■ Von Hans-Joachim Rieseberg

Neben der gestiegenen Mobilitätsanforderung des einzelnen durch die Aufsplittung seiner Erlebnisräume in Arbeit, Wohnen, Freizeit und Versorgung trägt der Lieferverkehr in einer hochentwickelten Stadt oder Stadtlandschaft immer mehr zur Verkehrsentwicklung bei. Dabei gibt es einen immer gnadenloseren Kampf zwischen ruhendem und rollendem Verkehr. Meist haben die sehr breiten Straßen in Berlin drei Spuren in jeder Richtung, davon wird aber eine Spur durch dauerparkende Individualfahrzeuge und die zweite Spur durch Lieferfahrzeuge in der zweiten Reihe belegt. Damit steht an effektiv nutzbarer Straßenfläche häufig nur noch eine Spur eingeschränkt zur Verfügung, eingeschränkt durch die vielen Ein- und Ausfahrbewegungen aus einer verkrüppelten zweiten Spur.

Die Straße wird zum Parkplatz

Die Zulieferindustrie und das Transportgewerbe beklagen einerseits die Enge der Straßen, andererseits wird festgestellt, daß beispielsweise die Möbellieferungsfahrzeuge ihre Standzeiten meist in der zweiten Spur deshalb so lange behalten, weil die Lieferanten gleichzeitig die Monteure sind. Der Lieferverkehr in zweiter Spur hat also häufig gar nicht mehr Lieferfunktion, sondern Parkfunktion und behindert in dieser Funktion im Grunde sich selbst am meisten.

Hinzu kommt eine permanente Zunahme von Lieferverkehr aufgrund verschiedener Ursachen. Fast alle Geschäfte, Betriebe und Dienstleistungseinrichtungen verzichten immer häufiger auf Lagerräume und Lagerkapazitäten. Das bedeutet, daß die Anlieferungen in immer kürzeren Zeitabständen erfolgen müssen. Es wird also nicht einmal sehr viel geliefert, sondern zehnmal sehr wenig. Mit steigendem Wirtschaftswachstum werden auch immer mehr Güter verbraucht, und damit müssen immer mehr Güter in immer kürzeren und schnelleren Abständen produziert und geliefert werden. Die Produktionsmethoden werden immer weiter verfeinert und differenziert. Das bedeutet, ein Gesamtprodukt zerfällt in diverse Einzelprodukte, die an bestimmten Orten zusammengesetzt werden.

Rollende Lagerhallen

Bei all diesen zusammengesetzten Produkten fallen immer größere, häufigere und längere Transportwege an. Da die Transporte im Vergleich zur Produktion kostenmäßig immer billiger geworden sind, gibt es keine Universalproduktionsmethode mehr, sondern nur komplexe arbeitsteilige Produktionsmethoden. Diese arbeitsteiligen Produktionsmethoden werden zwangsläufig erkauft durch höhere Anforderungen an die Transportsysteme. Waren diese Systeme bisher nur in einem nationalen oder regionalen Rahmen möglich, so werden sie künftig in einem europäischen Verbund möglich werden. Alle Güter werden ununterbrochen von Sizilien bis zum Nordkap und vom Atlantik bis zum Ural mehrmals hin- und hertransportiert.

Diese Tranportketten, die indirekt in den Produktionsmethoden verborgen sind, bergen aber weitere Gefahren in sich. Das ganze System hat heute einen sehr schönen und griffigen Namen, es heißt „just-in-time“, was bedeutet: Ich habe keine Lagerhallen, sondern in die Produktionskette wird die Transportkette eingeklinkt.

„Just-in-time“ gilt aber nicht nur für die Produktion, sondern auch für die Rückseite der Produktion, nämlich für den Müll. Wurden die Produkte bis vor zehn Jahren noch nach ihrem Verbrauch einfach in den Müll geworfen und einmal in einer großen Menge, aber undifferenziert abtransportiert, so kurven heute schon mindestens sechs Müllentsorgungssysteme durch die Städte, und zwar alle mit relativ großen Fahrzeugeinheiten: allgemeiner Hausmülll, Glas, Papier, Metall, Kunststoff, Kompost und die diversen Sondermüllsysteme. Nun könnte man davon ausgehen, daß die Vorsortierung in den Haushalten und in den Betrieben dazu geführt hätte, daß das Gesamtmüllaufkommen nicht größer geworden ist – das Gegenteil ist der Fall.

Müll — Kehrseite der Produktion

So wie auf der Seite der Produktion immer mehr Transporte anfallen, so fallen auch auf der Rückseite der Produktion, nämlich auf der Müllseite, immer mehr Transporte an. Da in der Regel die Flächen für die Transportsysteme gleichgeblieben sind, der Flächenverbrauch der Transportsysteme aber größer geworden ist (Schienentransportsysteme haben beispielsweise einen halb so großen Flächenverbrauch wie automobilgestützte Transportsysteme), ist damit zwangsläufig die Nutzung der Fläche immer kleiner geworden. Immer mehr LKWs müssen sich eine immer geringere Fläche teilen, stehen immer länger im Stau, verbringen also ihre Zeit als Transportsysteme immer nutzloser. Es müssen immer mehr Fahrzeuge eingesetzt werden, weil die Stauzeiten als Fehlzeiten zu Buche schlagen, und das bedeutet, daß die Staus immer länger werden. Man löst also keine Transportprobleme, sondern man schafft immer mehr und immer neue Transportprobleme.

Es wäre eine Illusion zu glauben, daß in diesem Bereich die Schiene eine Lösung bringen würde. Die Parole, Transportfälle auf die Schiene zu verlagern, ist zwar schön, aber sie wird nichts lösen.

Auch die Schiene bringt keine Lösung

Die Schiene als Transportsystem ist in der Funktion des gejagten Hasen beim Wettlauf zwischen Hase und Igel. So wie das Müllproblem nicht durch Recycling gelöst werden kann, so kann das Transportproblem als verkehrsplanerische Aufgabe nicht durch die Schiene gelöst werden, weder innerstädtisch noch außerstädtisch.

Transporte haben ähnliche Wirkungen wie Verpackungen und müßten ähnlich umwelttechnisch behandelt werden. Das Problem ist nur, daß Transporte eigentlich nicht stofflicher Art sind, sie werden nicht deponiert, man kann sie nicht sehen. Transporte sind Abfälle der Güterproduktion, gleichzeitig Teil der großen Dienstleistungsindustrie und werden vor allem als Luft- und Klimaschadstoffe langfristig deponiert.

Nur Transportvermeidung hilft aus dem Dilemma

Transporte wären also planerisch zu behandeln wie Müll oder Energieverbrauch. Auf sie müßten dieselben gesetzlichen Regelungen angewendet werden, um die als Transportdeponierung in Form von „just-in-time“-Produktionen, Transportverbrennung in Form von Luftverschmutzung und Transportrecycling in Form von planerischen Systemen erbrachte Transportleistung rückholbar zu machen. Rein technisch gesehen ist das Wichtigste die Entwicklung von Transportvermeidungssystemen.

Produktion und Verbrauch zusammenführen

Dabei müssen zwei Strategien entwickelt werden: Erstens müssen Verbrauch und Produktion zusammengeführt und zweitens muß die Produktion entscheidend verkleinert werden. Das erste bedingt das zweite und umgekehrt. Historisch gesehen entstand die Veränderung in den Transportsystemen aus der Verlagerung der Produktion aus den großen Zentren wegen ihrer Umweltschädlichkeit. Auch hier ein gewaltiger Irrtum. Die Produktionen wurden nicht entgiftet, sondern nur verlagert. Diese Verlagerung der Produktion bedingte eine Erhöhung des Transportzwangs. Die Erhöhung des Transportzwangs führte wiederum zu einer Veränderung der Siedlungsstruktur. Wo diese Zusammenhänge scheinbar trivial sind, werden sie nicht beachtet. Verkehrsplanerisch bedeutet dies, daß die Verkehrsplanung eigentlich nichts verändert, sondern nur auf Dinge reagiert, die sie gar nicht beeinflussen kann. Verkehrsplanung tut nur so, als ob sie plant. Verkehrsplanung im Transport- und Lieferbereich ist keine aktive Beeinflussungsplanung, sondern passive Reaktion.

Fataler Nachholbedarf in Berlin

Berlin ist insoweit nur ein Sonderfall, als das eskalierende Verkehrsproblem einer normalen Groß- und Millionenstadt von den Versorgungsfahrten einer beispiellosen Nachholjagd nach Funktionen überlagert wird. Es gab in Ost- und Westberlin keine kontinuierliche Anpassung der Stadt an ihre Funktion. Innerhalb von wenigen Jahren müssen nun Maßnahmen durchgeführt werden, die sonst in anderen westdeutschen Städten in 40 Jahren kontinuierlicher Entwicklung getätigt werden konnten. Ergebnis: In den nächsten 15 bis 20 Jahren wird es einen riesigen zusätzlichen Lieferverkehr geben, der allein nur der Unterhaltung der zahllosen Baustellen oder dem Abtransport dienen wird.

Konnte dies in westdeutschen Städten noch zu Zeiten erfolgen, als der Individualverkehr auf automobiler Basis sich erst entwickelte, muß dies in Berlin in Hochzeiten der Ausstattung mit dem Automobil erfolgen. Der Zusammenbruch jeglichen Verkehrs ist aufgrund dieses hohen Baustellenverkehrs vorprogrammiert. Es ist einfach unehrlich, vier Millionen Einwohnern dieser Stadt vorzumachen, sie könnten wie normale Bewohner einer europäischen Millionenstadt leben und gleichzeitig eine wirtschaftliche Umstrukturierung verkraften, Hauptstadtfunktionen des größten europäischen Staates übernehmen, Olympiastadt werden und eine der größten Touristenattraktionen Europas sein. Darüber hinaus müßte Berlin noch Nadelöhr für den europäischen Ost-West-Verkehr nach dem Binnenmarkt werden und nordosteuropäisches Luftkreuz.

Alles gleichzeitig geht nicht

Versuchen Sie, sich das einmal in Ihrem häuslichen Bereich klarzumachen. Sie bauen sich ein neues Einfamilienhaus, sie feiern Richtfest, Einweihung und Hochzeit zugleich, gehen am selben Tag von 8 bis 16 Uhr arbeiten, bekommen ihren gesamten Hausrat und ihre Möbel geliefert und erhalten noch Besuch aus Amerika. Die Bauhandwerker sind noch nicht fertig, die Wasserversorgung wird noch gelegt, und die Stromversorgung wird durch ein Notstromaggregat sichergestellt. Die Toiletten sind noch nicht da, statt dessen haben Sie noch eine Nottoilette in Form eines Campingklos. In jedem Privathaushalt würde niemand auf die Idee kommen, so etwas zu tun: in Berlin aber meint man, verkehrs- und stadtplanerisch alles gleichzeitig tun zu können.

Niemand aus dem Dienstleistungs- und Transportgewerbe scheint sich darüber Gedanken zu machen, alle fluchen nur und maulen rum, aber keiner kommt auf die Idee, daß das Nacheinander nicht stimmt, aber alle hoffen irgendwie, doch daran zu verdienen. In Wirklichkeit werden sie alle verlieren, auch fast alle Spekulanten!

Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg ist Mathematiker, Architekt, Stadt- und Verkehrsplaner. Der Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise erarbeitet gegenwärtig im Auftrag von Greenpeace eine Verkehrskonzeption für Schwerin.

Die nächste Folge der Serie erscheint am Montag kommender Woche.

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