: Jelzin will Atempause
■ Rußlands Volksdeputiertenkongreß eröffnet/ Taktische Schritte
Moskau (taz) – Der erste Tag des Volksdeputiertenkongresses in Moskau verlief ohne nennenswerte emotionale Aufwallungen, wie sie die vorangegangenen Sitzungen des höchsten gesetzgebenden Organs Rußlands so häufig gesehen hatten. Dennoch wollten die Abgeordneten des rot-braunen Spektrums nicht darauf verzichten, ihre unversöhnliche Gegnerschaft gegenüber Präsident Jelzin gleich zu Anfang deutlich zu machen. Nach dem Spruch des Verfassungsgerichtes, das Jelzins Verbot der Kommunistischen Partei für nicht durchweg legal erklärt hatte, verlangten sie, einen Prozeß gegen den Präsidenten anzustrengen. Die Mehrheit lehnte es ab, doch ein Drittel stimmte immerhin dafür.
In seiner Auftaktrede kam Jelzin mit harschen Worten gleich zur Sache. Vom Parlament forderte er, sich mit seinen eigenen Angelegenheiten zu befassen, anstatt in Kleinigkeiten sich zu verlieren. Der Kongreß solle sich überhaupt nur um Verfassungsänderungen kümmern. Er rief dazu auf, „das Land von den hysterischen antireformerischen Kräften zu bewahren“, und warnte vor reaktionären Kreisen, die ihre Anhänger sogar mit Waffen versorgten.
Jelzin plädierte für einen „Waffenstillstand“ zwischen Regierung und Legislative, um durch die Talsohle der Reformen hindurchzukommen. Das Parlament soll also die präsidentialen Sondervollmachten, die mit dem gestrigen Tag erloschen, erneut bestätigen. Exekutive Aufgaben und die Privatisierung des Staatseigentums seien ausschließlich Sache der Regierung, sagte Jelzin. Eine gewisse Kompromißbereitschaft signalisierte er bei der Wahl des Premiers. Bisher füllte diesen Posten der Wirtschaftsreformer Gaidar nur geschäftsführend aus, da er mit einer Zustimmung des Parlaments nicht rechnen konnte. Nun könne der Gesetzgeber den Premier bestimmen, der Präsident behalte dafür das ausschließliche Recht, sein Kabinett selbst zu ernennen. Jelzins Konzession sieht sehr nach einem taktischen Schritt aus. Denn auf die Dienste Gaidars zu verzichten käme einem offenen Eingeständnis des Scheiterns der Reformen gleich. Klaus-Helge Donath
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