: „Ich kann doch nicht sagen, ich gehe jetzt“
Die Hauspflegerinnen der Wohlfahrtsverbände leisten oft mehr, als ihr Arbeitsvertrag vorschreibt/ Für alte und kranke Menschen sind die schlecht bezahlten Pflegerinnen oft der einzige Kontakt ■ Von Marlies Wiedenhaupt
Berlin. Wenn Katharina kommt, hat er schon Kaffee gekocht, und die beiden rauchen in der Küche erst mal eine Zigarette: eines der Rituale, die in diesem Haushalt gepflegt werden. Nur mit Mühe kann sie ihm heute ein paar Worte entlocken. Er wirkt abwesend. Aber Katharina läßt nicht locker. Wie das Wochenende war, will sie wissen. Ob der Sohn sie besucht hat. Ja, kurz. Ob Frau M. wieder aus dem Bett gefallen ist. Nein. Ob er denn gestern Fußball gesehen hat. Doch selbst dieses Thema, sonst eines seiner liebsten, läßt ihn heute ziemlich kalt. „War ja nicht so doll.“ Was er heute zu Mittag essen möchte, Möhreneintopf oder Nudeln mit Rindfleisch. Egal. Und zum Nachtisch? Egal. Seine Reaktion bringt sie auf die Palme.
Katharina J. ist seit fünf Jahren Hauspflegerin bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Die 39jährige gelernte Arzthelferin muß die täglichen sechs Stunden Arbeitszeit auf vier PatientInnen verteilen. Zu ihnen gehört auch das Ehepaar Maria und Rudolf M. in Borsigwalde. Seit fast drei Jahren versorgt Katharina die beiden 84jährigen, beides Pflegefälle. Maria M. ist bettlägerig und wird voraussichtlich nie wieder aufstehen können. Ihr Mann kann zwar gehen, aber nur mühsam. Und auch er kommt aus der kleinen Einzimmerwohnung nie raus. Deshalb kann sie sein teilnahmsloses Verhalten gut verstehen. Es gibt sowenig, was seinen Alltag belebt. An manchen Tagen sitzt der alte Mann stundenlang am Fenster. Er weiß, wer wann nach Hause kommt, wem welches Auto gehört.
Ach ja – den Fensterputzer muß sie noch bestellen für ihre „Pfleglinge“. Wie so vieles andere, gehört das zwar nicht zu ihren Aufgaben, aber sie weiß, wie wichtig das für die alten Leute ist. Nicht nur, weil Weihnachten vor der Tür steht, sondern weil für die alten und kranken Menschen der Blick nach draußen einer der wenigen Kontakte zur Außenwelt ist. Im Sommer, als Rudolf M. noch besser laufen konnte, ist Katharina mit ihm spazieren gegangen, drei Stunden, außerhalb ihrer Arbeitszeit. Denn an hauspflegerischer Betreuung stehen dem Ehepaar pro Tag zwei Stunden zur Verfügung. Alles weitere müßten sie aus ihrer eigenen Tasche bezahlen. „Aber man kann ihnen doch dafür keine Rechnung schicken.“
Aber es ärgert sie auch, „daß im Gesundheitswesen mit dieser Nächstenliebe spekuliert wird“. Neben der pflegerischen und hauswirtschaftlichen Arbeit, die manchmal eine schwere körperliche Belastung ist, macht auch die psychosoziale Betreuung, die „so nebenbei mitgeleistet wird“, den Hauspflegerinnen zu schaffen. Denn oft kümmern sie sich nicht nur um die PatientInnen selbst, sondern auch um deren Angehörige. Zum Beispiel wenn Ehepartner mit dem bevorstehenden Tod der Kranken ebensowenig fertig werden wie diese selbst. Und für die Angehörigen sieht die Krankenkasse in dem Fall keine Versorgung vor. Katharina J. erinnert sich an eine 57jährige Multiple-Sklerose-Patientin, die ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte. Bis die Krankenpfleger die Frau transportieren konnten und Katharina die Wohnung wieder hergerichtet hatte, waren fünf Stunden vergangen. Und dann war da noch die verzweifelt weinende Mutter der Kranken. „Da konnte ich doch nicht einfach sagen, ich gehe jetzt.“
Die Zigarettenpause ist beendet. Katharina hebt Maria M. auf einen Stuhl, um sie zu waschen. Sie möchte was sagen, aber sie kann nur vereinzelte Laute von sich geben. Cerebrale Durchblutungsstörungen verhindern, daß genügend Sauerstoff ihr Gehirn erreicht. Altersbedingte Schwäche war es, die den Sturz verursacht und zu einem Oberschenkelhalsbruch geführt hatte. Seitdem kann sie nicht mehr aufstehen. Kurz danach wurde ihr die linke Brust abgenommen. „Trotz allem ist sie wie ein Gummibaum“, sagt Katharina, „sie verliert zwar Blätter, aber gibt nicht auf.“ Die kranke Frau vermißt, während sie gewaschen wird, das Brummen des Elektrorasierers ihres Mannes. Normalerweise müßte das Geräusch jetzt aus der Küche kommen – eine eingespielte Zeremonie. Sie protestiert mit den wenigen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln.
Insgesamt sind bei den verschiedenen Berliner Wohlfahrtsverbänden etwa 8.000 Hauspflegerinnen beschäftigt. In den Sozialstationen oder „Einsatzbüros“ der Arbeiterwohlfahrt sind es rund 760. Der Anteil der Männer in der Hauspflege ist verschwindend gering. Sie sind eher als examinierte Krankenpfleger mit dreijähriger Ausbildung anzutreffen. Die Hauspflege hingegen ist immer noch nicht als Lehrberuf anerkannt und zudem unterbezahlt. Die AWO zahlt zur Zeit einen Anfangslohn von 13,35 Mark in der Stunde, und selbst nach 15 Berufsjahren erhöht er sich auf höchstens 14.80 DM. Die AWO bekommt von den Krankenkassen oder vom Senat 34,90 DM pro Stunde Hauspflege.
Da diese Arbeit in erster Linie von Frauen verrichtet wird, wird sie meistens unterbewertet, weil das Vorurteil herrscht, das Kümmern um andere läge im weiblichen Naturell. Ein Grund, warum Schwerstarbeit noch immer mit Leichtlohn bezahlt wird. Die meisten der AWO-Hauspflegerinnen sind Teilzeitkräfte, die durchschnittlich dreißig Stunden pro Woche arbeiten. Darunter viele Alleinerziehende und Frauen ohne Berufsausbildung, die auf dem Arbeitsmarkt sowieso geringere Chancen haben.
Katharina J. ist zwar gelernte Arzthelferin, fand in diesem Beruf allerdings keine Teilzeitstelle. Aber die brauchte sie, weil sie außer ihren vier PatientInnen noch drei Töchter – vierzehn, zwölf und drei Jahre alt – und ihren eigenen Haushalt zu versorgen hat. Als neues Arbeitsfeld bot sich die Hauspflege an. Teilzeitarbeit ist dort möglich, eine spezielle Ausbildung nicht erforderlich. Nach einem Einführungsgespräch mit der Betriebsleiterin geht es ohne weitere Vorbereitung zur ersten PatientIn. Eine Einarbeitungswoche, in der die „Neuen“ erst mal mit denen mitgehen, die sich auskennen, ist nicht vorgesehen. Das sei auch nicht notwendig, versichert Eva Henschel, Leiterin der ambulanten sozialen Dienste bei der AWO, denn die meisten Hauspflegerinnen seien zwischen 30 und 60 Jahre alt und „gestandene Frauen“.
Während Katharina die kranke Maria M. füttert, erzählt sie von ihren Kindern, bringt Lebendigkeit in diese Wohnung, in der der Alltag wie im Zeitlupentempo verläuft. Nur aus den zwei Pflegestunden, die dem Ehepaar zustehen, sind schon wieder drei geworden. Sie verläßt die Wohnung, in der das Ehepaar seit 51 Jahren lebt, und macht sich auf den Weg zu ihrem nächsten „Pflegling“. Rudolf M. steht am Fenster und winkt. Wie jeden Tag. Katharina weiß, daß seine Zigaretten nicht mehr bis morgen reichen. Deshalb wird sie am Nachmittag noch mal hinfahren. Wie fast jeden Tag.
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