: Ungeliebter Zwischenschritt
Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) gilt in den meisten Efta-Ländern nur als notwendiges Übel auf dem Weg zur EG-Mitgliedschaft ■ Von Reinhard Wolff
Stockholm (taz) – In drei Wochen fällt der Startschuß für den gemeinsamen Binnenmarkt der EG- und Efta- Staaten. Doch unabhängig davon, wie die SchweizerInnen über ihren Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abstimmen werden – die ganze Konstruktion hat für die sieben Efta-Staaten längst an der ursprünglichen Bedeutung verloren. Denn in Skandinavien und Österreich warten Wirtschaft und Regierungen inzwischen ungeduldig darauf, in Brüssel als Vollmitglieder in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen zu werden, auch wenn dies eine Mehrheit in den Efta- Staaten bislang noch gar nicht will. Der EWR ist eher zu einer lästigen, aber notwendigen Durchlaufstation geworden.
Der zweitgrößte Binnenmarkt der Welt, der 19 Länder mit knapp 400 Millionen VerbraucherInnen vereinen soll, wurde als Idee in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre geboren. Die EG hatte damals beschlossen, bis 1993 die noch bestehenden Binnengrenzen beseitigen zu wollen. Was sollte dann mit den Efta-Ländern geschehen, die über Freihandelsabkommen, die im wesentlichen nur Zollfreiheit für verschiedene Industriewaren beinhalten, mit der EG verknüpft waren? Einen plötzlichen Ansturm neuer Mitgliedsländer wollte die EG- Kommission so lange verhindern, bis die damals noch geplante politische Union nicht unter Dach und Fach gebracht war. Diese Rechnung, die 1989 zur Aufnahme der EG-Efta-Verhandlungen führte, ging jedoch nicht auf – und das nicht nur, weil sich die Staats- und Regierungschefs der EG-Länder nicht auf einen gemeinsamen politischen Nenner einigen konnten. Spätestens nach dem Ende der Sowjetunion waren für die neutralen Efta-Staaten die letzten Schranken gefallen – sie drängten nun in die EG.
In Österreich und Finnland wurde der EWR-Beitritt noch ohne großes Aufsehen über die parlamentarische Bühne gebracht. Doch in den übrigen Staaten mehrte sich der Widerstand: In Schweden als „Staatsstreich“ und in Norwegen als „Ausverkauf“ gebrandmarkt, wurde das Vertragswerk trotz aller Bedenken von einer Parlamentsmehrheit verabschiedet. In den EG-Staaten schließlich hatte die breite Öffentlichkeit den EWR-Beitritt der Efta-Staaten überhaupt nicht registriert, obwohl er diesen Ländern so etwas wie eine EG-Teilmitgliedschaft bringt – allerdings ohne Stimmrecht und Zollunion, ohne gemeinsame Agrar-, Regional- und Handelspolitik gegenüber Drittländern. Doch die Efta-Staaten nehmen an den „vier großen Freiheiten“ der EG teil: dem freien Markt von Waren, Diensten, Kapital und Personen. Um den Binnenmarkt zu erreichen, mußten sich nicht die EG-Staaten, sondern allein die Efta-Länder anpassen. Etwa 1.500 EG-Vorschriften haben diese in ihr nationales Recht einzubauen, was rund zwei Dritteln des gesamten EG-Rechtsgebäudes entspricht und auf dessen Entstehung und Veränderung sie ohne EG-Mitgliedschaft nahezu keinen Einfluß ausüben können.
So ist der EWR-Vertrag für viele Kritiker und Kritikerinnen eine Konstruktion, die die Worte vom „Staatsstreich“ erklärt. Jedes neue EG-Recht geht auch in den EWR ein, ohne daß die Parlamente in Wien oder Stockholm hierzu auch nur gefragt werden müssen. Die einzige Möglichkeit der Einflußnahme liegt weitab der nationalen demokratischen Verfassungen: durch informelle Mitbestimmungsversuche auf den Beschlußprozeß. In den meisten Efta-Ländern bahnen sich damit bereits Verfassungskonflikte an: Während das nationale Recht in Streitfragen das letzte Wort meist seinen Verfassungsgerichten überläßt, hat laut EWR-Vertrag bei Meinungsverschiedenheiten um den Binnenmarkt der EG-Gerichtshof das entscheidende Wort. Ein Rechtschaos sehen viele Europarecht-ExpertInnen schon jetzt heraufziehen: Das Abkommen bewege sich in einem eigentlich nicht faßbaren Grenzbereich zwischen nationalem, über- und zwischenstaatlichem Recht.
Aber auch die Industrie malt Katastrophengemälde – für den Fall, daß es nämlich zu einer Verwirklichung des EG-Binnenmarktes ohne gleichzeitiges Inkrafttreten des EWR-Marktes käme. Laut einer Analyse des britischen Centre for Economic Policy Research würde der EG-Außenhandel mit der Efta dann um 10 Prozent sinken – bei einem EG-Anteil an den Efta-Ausfuhren von 58 Prozent wäre dies ein schwer zu verkraftender Einbruch. Der EG-Markt hat sich bereits als äußerst wirkungsvoller Magnet für Firmen aus Efta- Ländern erwiesen: Zwischen 1985 und 1990 haben sich deren Investitionen in EG-Ländern mehr als verdoppelt. Ohne den EWR, so wird nun befürchtet, würden diese innerhalb der Efta arbeitsplatzvernichtenden Investitionen noch weiter steigen.
Doch was BefürworterInnen wie GegnerInnen des EWR-Abkommens in den Efta-Staaten in erster Linie beschäftigt, läuft unter dem Stichwort Konkurrenz. Der unter der EG-Flagge herannahende freie Handel birgt für die einen Hoffnungen auf niedrigere Konsumpreise – von Lebensmitteln, die jetzt noch an den Grenzen gestoppt oder zumindest kräftig verteuert werden, bis hin zu Alkohol und Autoversicherungen. Die GegnerInnen sehen vor allem die Gefahr eines Ausverkaufs der einheimischen Wirtschaft und der Naturressourcen, vom Fisch über das Nordseeöl bis zu den attraktiven Ferienhausgrundstücken. Sie befürchten auch, daß nach Übergangsfristen die im allgemeinen umweltbewußteren skandinavischen Efta-Länder ihre fortschrittlichere Umwelt- und Konsumentenschutzgesetzgebung aufgeben müssen. Hunderte verbotener Chemikalien kämen dann wieder auf den Markt, krebsverdächtige Stoffe dürften wieder verarbeitet werden. Die EWR-GegnerInnen setzen daher – wenn das Übel schon nicht zu verhindern ist – auf eine möglichst lange Übergangszeit.
Auf solche hoffen wohl auch die Efta-Bürokraten und -Bürokratinnen, die gerade dabei sind, erst einmal eine möglichst gewichtige Bürokratie aufzubauen. In Brüssel wird ein neuer Bürobunker hochgezogen, der aussieht wie ein modernes Kreuzfahrtschiff. Und um diesen zu vertauen, wird heftig getagt, konferiert, Papier produziert und zwischen vielen zusätzlichen Sprachen übersetzt werden müssen.
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