: „Sonnabends benehmen sie sich sittsamer“
■ Warum zu Weihnachten der Kaufrausch ausbricht und Menschen zu Dieben werden
Berlin. Die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland haben uns das eingebrockt. Dadurch, daß sie das Jesuskindlein bei seiner Geburt mit Wein von gutem Gewächs, Myrrhe, Gold und Weihrauch bedachten, eröffneten sie eine Tradition, der sich bis heute nur wenige entziehen: Weihnachtsgeschenke kaufen.
Und das Geschäft boomt. Nicht nur ganze Industriezweige hängen von ihm ab, sondern auch viele kleine Läden. Der Sortimentsbuchhandel beispielsweise machte im November und Dezember 1991 knapp ein Viertel seines Jahresumsatzes. Wie der Gesamtverband des deutschen Spielwaren-, Groß- und Außenhandels mitteilte, ist die Situation bei Kuscheltieren, Barbie-Puppen und Super-Nintendo ähnlich. 27 Prozent dessen, was Kind zum Spielen so braucht, findet in den letzten beiden Monaten des Jahres reißenden Absatz. Und jedes Jahr setzt das Weihnachtsgeschäft früher ein. Bereits Ende August wird im Hinblick auf das Freudenfest bestellt, vor allem im Bereich des elektronischen Spielzeugs. Betrachtet man den Umsatz der letzten vier Monate des Jahres, entdeckt man den beachtlichen Anteil von 40 Prozent, den das Weihnachtsgeschäft ausmacht.
Das Geschäft läuft nicht nur, weil unsere Kultur das „Zu-Weihnachten-etwas-Schenken“ ritualisiert hat, sondern auch, weil Werbepsychologen mit ihren Tricks das Verlangen nach Kaufen anzuregen verstehen. Ist ein Bedürfnis erst mal geweckt, befindet sich der Mensch psychologisch gesehen im Mangelzustand und dadurch im Ungleichgewicht. Ein Grundmotiv des menschlichen Handelns ist nun aber, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Der unstimmige Zustand muß deshalb beseitigt werden. In diesem Fall gelingt das durch Kaufen. Denn Kaufen befriedigt. Aber nicht selten ist es zwanghaft. „Den Kaufrausch zu Weihnachten kann man, wenn man will, auch als zwanghafte Verhaltensweise betrachten“, so Detlev Liepmann, FU-Professor am Institut für Psychologie, „wenn er bei bestimmten Anlässen mit zur ritualisierten Handlung gehört.“
Auch die Diskrepanz zwischen der eigenen Einstellung und dem tatsächlichen Kaufverhalten kann ein Fall für den Psychologen sein. Selbst Leute, die Weihnachten ganz doof finden und sicher sind, daß sie gar nichts brauchen, schrecken nicht davor zurück, sich dem Kaufrausch hinzugeben. „Unreflektiertes Kaufverhalten“ nennt Liepmann das Phänomen, daß Geld ausgegeben wird für völlig unnützes Zeug. Als Beispiel fällt ihm dazu der Mann Mitte Vierzig ein, der sich einen Hometrainer kauft, den er nie benutzt. Aber er besitzt ihn. Und zusammen mit der Ware hat er die Illusion gekauft, durch Fitneß zehn Jahre jünger, dynamisch und kreativ zu wirken – das zu sein, was die Gesellschaft positiv sanktioniert.
Das, was Statussymbole bei Erwachsenen bewirken, nämlich Ängste und Minderwertigkeitsgefühle zu verdecken, läuft bei Kindern auf einer ähnlichen Schiene. Auch bei ihnen geht es oft nicht um den Gegenstand selbst, sondern um das, was mit ihm assoziiert wird. Und auch ihnen liefert die Werbung das, womit sie sich identifizieren können, gleich mit. Denn die Schulkameraden, die einen Gameboy haben, sind im Werbespot die glücklicheren.
Spielzeug wird deshalb nicht nur viel gekauft, sondern auch geklaut. Da viele Wünsche aus ökonomischen Gründen nicht erfüllt werden können, sieht manch einer den Ausweg nur noch in der Selbstbedienung. Alle Jahre wieder verzeichnet die Polizei zur Weihnachtszeit eine erhöhte Rate an Ladendiebstählen. Bei Karstadt am Hermannplatz wird von Oktober bis Weihnachten 20 Prozent mehr gestohlen als in den anderen Monaten. Die Gelegenheitsdiebe machen hier bis 85 Prozent der Täter aus, die weder einer besonderen Alters- noch Berufsgruppe zuzuordnen sind. Der Jurastudent kann der Versuchung ebensowenig widerstehen wie die Gattin des Bankdirektors.
Ein Detektiv des Ostberliner Kaufhofs berichtet allerdings von anderen Erfahrungen als sein West-Kollege. Hier seien es überwiegend Arbeitslose, die sich dem verbotenen Zugriff auf die nicht bezahlbare Ware hingäben. Und Spielzeug stehe auf der Liste ganz oben. „Man fragt die Leute ja, warum sie das tun. Und dann stellt sich raus, daß sie ihren Kindern zu Weihnachten was Gutes tun wollen, es aber nicht bezahlen können“, so der Detektiv. „Sonnabends lassen die Kunden weniger mitgehen. Da sind sie mit der Familie unterwegs und benehmen sich sittsamer.“ Von den Dieben, die geschnappt werden, seien zirka 75 Prozent Ersttäter. Auch Einbrüche, Taschendiebstähle und Banküberfälle nehmen um die Weihnachtszeit zu. Das liegt allerdings nicht am Weihnachtsfest, sondern an der dunklen Jahreszeit. Marlies Wiedenhaupt
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