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Fremde Heimat am Prenzlberg

■ Jugendliche erkunden in einer Ausstellung ihre Erfahrungen seit dem Mauerfall / Erschrecken über die "neue Verrohung" / Eßgewohnheiten heute: Obst statt Broiler

Prenzlauer Berg. Der dezente Geruch von Lösungsmitteln durchdringt die Ausstellungshalle der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg. Kim, ein junger Vietnamese mit prachtvoller schwarzer Haarmähne, hat sein neuestes Graffiti pünktlich zur Eröffnung der Ausstellung „Fremde Heimat“ fertiggestellt. Normalerweise sprüht Kim unter einer S-Bahn-Brücke nahe bei der Bornholmer Straße. „Ehe die Mauer auf war, war das Betreten dort verboten, aber jetzt haben wir viel Platz, es herrscht kein Verkehr, und niemand stört sich an uns.“ Erst war er der einzige, der die schmutzigen Ziegelwände verschönte. Mittlerweile seien sie fünf, sagt er und nickt seinem kleinen blonden Kollegen zu. Vor den leuchtendbunten Schriftzügen, die die hintere Ecke der Halle zieren, sind kunstvoll einige halbverrostete Sprühdosen arrangiert, ein Videofilm zeigt die Jugendlichen bei der Arbeit. „Why“ hat Ricardo aus dem Wedding sein ebenfalls ausgestelltes Werk genannt. „Das ist die Frage, die ich an alle Verantwortlichen stelle. Warum mußte es so weit kommen, mit dem Rechtsradikalismus zum Beispiel“, sagt er. Er habe in vielen Gesprächen mit Jugendlichen festgestellt, daß der Umgang miteinander immer respektloser werde, sagt Markus Lau, einer der Initiatoren des Projekts. „Klar, es war schon immer so: Jungen schubsen Mädchen, Deutsche mögen Ausländer nicht, Ostler mißtrauen Westlern. Aber diese Verrohung, die sich da breitmacht, ist neu.“ Die Überzeugung, das habe mit den Verunsicherungen nach dem Mauerfall zu tun, führte zu der Idee, Jugendliche in Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern ihre Erfahrungen, Probleme und Befindlichkeiten nach der Wende darstellen zu lassen. Rund 60 Jugendliche aus Ost und West beteiligten sich an dem Projekt „Fremde Heimat“.

Eine Gruppe entwickelte das Café International. Auf Zeitungsbögen stehen mit ebensolchen beklebte Stühle und Tische. Um hinter das Geheimnis des ersten Tisches zu kommen, muß sich die Besucherin tastend über die Tischplatte bewegen, „so wie jemand, der in die Fremde gerät, sich vorsichtig vorfühlen muß“, sagte einer der Jugendlichen. Wird auf einen kleinen Knopf gedrückt, leuchtet nicht nur ein rotes Lämpchen, sondern etwa zwei Sekunden wird aufgenommen, was die über den Tisch Gebeugten sagen. Mittels eines zweiten Knopfs wird das Gesagte abgespult. Unter den Stühlen sind Kassettenrekorder angebracht. „Das ist ja wie bei der Stasi!“ entfuhr es Jugendsenator Thomas Krüger (SPD), der als Schirmherr die Ausstellung eröffnet hatte. „Hier wird nichts abgehört“, so die Erklärung, „auf den Bändern erzählen Jugendliche von ihren Erfahrungen nach der Wende.“

Ein Schülerclub aus der Raumerstraße im Prenzlauer Berg hat ein halbes Jahr ausländisch gekocht, „und wir haben es auch immer zusammen gegessen“, betont Julia. Sie haben auch Leute auf dem Weg zur Kaufhalle zu ihren Eßgewohnheiten befragt. Eisbein, Sauerkraut, Kartoffeln und Schnitzel nannten ernüchternderweise immer noch die meisten ein typisch deutsches und nicht selten gleichzeitig ihr Lieblingsgericht. Auf die Frage, was sich nach der Wende änderte, folgte meist ein Lob auf die Gefriertruhe oder die Mikrowelle. Nur einer meinte, wo es jetzt so viel Obst und Gemüse gebe, esse er davon mehr und weniger Fett. An typischer DDR-Nahrung listeten die Schüler neben den unvermeidlichen Broilern und Kathi- Kuchenmehl auch Abführperlen und Erdnußflips auf.

„In den Arbeiten wird deutlich, daß man überall fremd sein kann, auch gerade in der sogenannten Heimat“, sagte Senator Krüger. Viele Mensche aus dem Osten hätten das in den letzten Jahren erfahren müssen. Auf diese Fremdheit könne man romantisch reagieren, mit Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, die zum Teil brutale Formen annehme. Man könne auch kritisch Fragen stellen nach dem Woher, um Perspektiven zu entwickeln, eigene Fremdheit zu überwinden. Die Ausstellung zeige, daß die Jugendlichen sich dem Gefühl der Fremdbestimmtheit und der Zurückstellung nicht ausliefern wollten. Sie sei ein Schritt, sich in dieser Stadt über die eigene Situation zu verständigen. Corinna Raupach

Geöffnet ist die Ausstellung bis zum 21. Dezember in der Kulturfabrik, Ecke Dimitroff- und Knaackstraße, täglich 15 bis 19 Uhr.

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