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Erich Honecker muß weiter warten

Auch gestern fiel im Prozeß gegen den Ex-Staatsratsvorsitzenden noch keine Entscheidung über die mögliche Einstellung des Verfahrens/ Warten auf den nächsten Montag  ■ Aus Berlin Matthias Geis

Sichtlich nervös, bedrückt, den Kopf gesenkt, manchmal zusammengekrümmt, erwartet Erich Honecker den Beginn des zehnten Verhandlungstages. Kein Ritual, kein Lächeln heute. Auch seine Verteidiger Nicolas Becker und Wolfgang Ziegler wirken mehr als zurückhaltend. Kommt es zur Einstellung des Verfahrens, oder muß der einstige Staatsratsvorsitzende noch länger auf der Anklagebank sitzen? — Er muß. Die Entscheidung des Gerichtes über die Einstellung des Verfahrens wird frühestens am kommenden Montag fallen. Nach einer dreistündigen Befragung der medizinischen Sachverständigen durch die Prozeßbeteiligten sah sich die Staatsanwaltschaft nicht in der Lage, zu dem Gutachten Stellung zu nehmen, und bat um eine Bedenkzeit bis kommenden Montag. Dann werden sich auch die Verteidigung und die Nebenklage zur Frage von Honeckers Verhandlungsfähigkeit äußern. Das kann dauern. Insbesondere die Nebenklage wird weiter alles daran setzen, Honecker so lange wie möglich im Prozeß zu halten. Gestern hatte Rechtsanwalt Hanns-Ekkehard Plöger hierfür Julius Hackethal mitgebracht. Ganz nebenbei würdigt der Vorsitzende Richter Hansgeorg Bräutigam zu Prozeßbeginn den spektakulären Auftritt. „Ich sehe, sie haben sich wissenschaftlichen Beistandes versichert“, wendet er sich zu dem für seine skurril-dreisten Einfälle bekannten Plöger.

Der überrascht Bräutigam gleich zu Anfang mit der Ankündigung eines „Weihnachtsgeschenkes“: Er ziehe sein anhängiges Ablehnungsgesuch gegen die beisitzenden Richter zurück, bestehe aber im Falle des Vorsitzenden auf eine Entscheidung. „Nicht einer soll hier den Dr. Allwissend spielen“, begründet Plöger. Bräutigam zieht seine mittlerweile bekannten Grimassen. Doch Plögers Volte paßt Bräutigam ausnahmsweise gut ins Konzept. Er, der unter Befangenheitsverdacht steht, kann nicht über die Freilassung Honeckers entscheiden, bevor der Antrag vom Tisch ist.

Jetzt erläutert Bräutigam in aller Ruhe und erstmals in diesem Prozeß locker-jovial, wie er sich das weitere Procedere vorstellt: Unterbrechung der Hauptverhandlung. Bräutigam geht es darum, daß die „Vielzahl beklemmender Fragen und Erläuterungen“ zu Honeckers Gesundheitszustand nicht nur in Abwesenheit des Angeklagten, sondern auch ohne Öffentlichkeit vonstatten geht. Das gebiete die „Rücksicht auf die Würde des Angeklagten“.

Danach erläutern die Sachverständigen Volkmar Schneider und Hans-Jörg Kirstaedter ihr Gutachten. Tenor: Honecker ist für einen längeren Prozeß verhandlungsunfähig und hat nur noch kurze Zeit zu leben. Der Ermessensspielraum des Gerichtes bleibt erhalten, weil kein seriöser Gutachter sich zu einer Aussage bereit findet.

Diese Restunsicherheit wird die Nebenklage weiter ausreizen: „Der Befund läßt nicht den Schluß zu, daß der Tod des Angeklagten unmittelbar bevorsteht“, kommentierte der Sachverständige Julius Hackethal nach Verhandlungsende. Plöger gab sich hochzufrieden: Es sei „alles ganz ordentlich gelaufen. Heute kommt er jedenfalls nicht raus, Montag wahrscheinlich auch nicht.“ Dann versucht der sonst immer mitteilungsbedürftige Jurist das Mitteilungsbedürfnis seines Sachverständigen zu bremsen: „Julius, komm jetzt!“ Diesmal will sich Plöger nicht in die Karten schauen lassen.

Sichtlich angeschlagen wirkte nach Prozeßende Honecker-Verteidiger Nicolas Becker, der sich absolut sicher gegeben hatte, daß Honecker noch vor Weihnachten das Flugzeug nach Santiago besteigen könne. Jetzt macht ihm die Tatsache Sorge, daß die Staatsanwaltschaft ihre bereits fertige Stellungnahme zum medizinischen Gutachten noch einmal überdenken will. Das bedeute eine weitere Verzögerung. „Das ist der Hauptdämpfer, den ich heute zu beklagen habe.“ Erich Honecker muß weiter warten.

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