: Holy Shit, wo ist mein Schnuller? Von Andrea Böhm
Einen Boom verzeichnen dieses Jahr nicht nur die Hersteller von Nintendo-Spielen, sondern auch die Schnuller-, Lutscher- und Nuckelflaschenindustrie. Das liegt nicht etwa an einer Explosion der Geburtenrate, sondern am neuesten Trend der Jugend. Die Klamotten sind bunt und übergroß, in der Hand halten sie ihre Stofftiere, dazu die Techno- Version der Musik aus der „Sesamstraße“ in den Ohren und der Schnuller im Mund: die Nuckelgeneration.
Im Supermarkt sieht man Kleinkinder mit ihren jungen Müttern, die um den Hals den letzten Schrei tragen: das fluoreszierende Schnullerkollier. Studis auf dem Campus halten Bücherstapel im einen, Schmusetiere im anderen Arm. Ghettokids, die sich ansonsten mit ihrer Waffensammlung brüsten, haben plötzlich das Gummistück im Mund. Auch Popidole fördern den oralen Trend. Flavor Flav von der Rap-Gruppe Public Enemy und Kurt Cobain von der Rockgruppe Nirvana saugen mit. Zur Babymode gehören außerdem übergroße Plastikuhren als Halsschmuck, Beißringe, bunte Kinderbrillen, Jo-Jos in Leuchtfarben, Tootsie-Lutscher, Mickey- Mouse-Ringe oder die Erde als Gummiball zum Kneten.
Nun befinden wir uns im Lande der „Shrinks“, wie die Psychologen und Analytiker in USA genannt werden, und die haben natürlich jede Menge zum neuen Trend der Jugend zu sagen. Nur sind sie in diesem Fall überflüssig, weil die Schnullergeneration selbst genau weiß, was mit ihr los ist. Regression ist in, Erwachsensein ist out. Nicht umsonst heißt Schnuller auf englisch „pacifier“. Ob 16, 18 oder 22 Jahre alt, sie finden ihre Mundstücke „cool“, wollen nichts als „fun“, hassen Politik und soziale Bewegungen und haben auch kein Interesse an Kreditkarte und Karriere. Das Leben, das sie erwartet, empfinden sie schlicht und einfach abschreckend. Manche waren vorher Punks, fanden es aber irgendwann zu anstrengend, eine rotzige Protesthaltung an den Tag zu legen. Die „Kids“, wie sie sich selbst mit 25 noch nennen, finden, daß sie zu schnell aufgewachsen sind. Jetzt geht's zurück in die orale Phase. Der Schnuller ist das Erkennungszeichen gegen schlechte „vibes“ und signalisiert: „Hi, ich bin ruhiggestellt und happy.“ Schnullerfans nehmen kein Crack, sondern LSD oder Ecstasy. Wer auf dem Trip ist und sich dann auf die Reise in den Spielzeugladen macht, der kriegt keinen Horror, sondern die schönsten Halluzinationen inmitten von Batman, Alice im Wunderland, Bugs Bunny, Luftballons, Plastiksaxophonen und eben Schnullern in allen Farben und Größen — übrigens made in Taiwan. Auf den Feten wird kein billiger Klebstoff geschnüffelt, sondern Lachgas inhaliert. Geknutscht wird nicht mit Freund oder Freundin, sondern mit dem Stoffpanda, der quiekt, wenn man ihn nur richtig drückt.
Es gibt „Shrinks“, die es nicht nur bei der Analyse belassen, sondern auch Verständnis zeigen. Wenn sie in diesen Zeiten aufwachsen müßte, erklärte eine Psychologin aus New York der Washington Post, dann würde sie sich auch am liebsten bei der Familie Feuerstein verkriechen. Aids, Arbeitslosigkeit, Ozonloch, Gangs, Somalia und South Central? Holy Shit, wo ist mein Schnuller?
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