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Schöne Worte kosten nichts

Die soziale Dimension des EG-Binnenmarkts wird oft beschworen, gilt jedoch als zweitrangiges Ziel/ taz-Serie zum Binnenmarkt, Teil 9  ■ Aus London Ralf Sotscheck

Seit Freitag ist der vielbeschworene europäische Einheitsmarkt Realität – wenn auch mit Hunderten von Einschränkungen, Ausnahmeklauseln und Sonderregelungen. Zumindest in der Theorie können die Bürger und Bürgerinnen der EG-Länder nun grenzenlos reisen, nach Herzenslust Autos und Waschmaschinen importieren und tonnenweise alkoholische Getränke an den leerstehenden Zollhäuschen vorbeischleppen. Doch im europäischen Supermarkt kann nur einkaufen, wer Geld hat.

Die Staats- und Regierungschefs wiesen daher auf dem EG- Gipfel in Hannover im Juni 1988 ausdrücklich auf die „soziale Dimension“ bei der Vollendung des Binnenmarkts hin. Gemeint war damit die Kohäsion zwischen den reichen EG-Ländern und der Peripherie, der freie Verkehr von Arbeitskräften, Programme für Langzeitarbeitslose, Frauen und soziale Randgruppen, Verbesserungen der Arbeitsbedingungen sowie die Entwicklung des Dialogs zwischen den Sozialpartnern. Diese soziale Flankierung der wirtschaftspolitischen Ziele war freilich recht vage und wurde zeitlich als zweitrangig eingestuft.

„Die Europäische Gemeinschaft hatte schon immer eine soziale Dimension“, hieß es sogar in einer Erklärung der britischen Regierung. „Alle Mitgliedsländer stimmen darin überein, daß sie einen höheren Lebensstandard, bessere Möglichkeiten und die Gesundheit sowie die Sicherheitsstandards für Arbeitnehmer verbessern wollen.“ Schöne Worte kosten nichts. Als die „soziale Dimension“ in den Maastrichter Verträgen konkretisiert werden und bindenden Status erhalten sollte, legte Großbritannien das soziale Mäntelchen flugs ab.

„Jedes Mitgliedsland hat seine eigene Tradition in bezug auf Arbeit und soziale Angelegenheiten“, gab die britische Regierung bekannt. „Diese Vielfalt muß erhalten bleiben. Die Regierung glaubt, die Erfahrungen in Großbritannien haben gezeigt, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Arbeitsbedingungen möglichst ohne Eingreifen des Parlaments untereinander ausmachen sollen.“ Die Tory-Regierung hat sich in einem Protokoll zu den Maastrichter Verträgen zusichern lassen, daß neue Gesetze zu sozialen Angelegenheiten weder in Großbritannien gelten, noch „daß wir dafür zahlen müssen“.

Die Sozialcharta ist für die Konservativen in London ein rotes Tuch. Mindeststandards für Löhne, Renten und Urlaub, Sozialversicherung für Teilzeitkräfte, Vorschriften für Hygiene und Sicherheit am Arbeitsplatz, Mutterschaftsurlaub und Kündigungsschutz, Verbot von Kinderarbeit und Schutz für Jugendliche – alles Punkte, die der Tory-Ideologie zuwiderlaufen. Der ehemalige Arbeitsminister Norman Fowler wehrte sich besonders gegen das Streikrecht. „Das ist nicht mit unserer Tradition vereinbar“, sagte er. „Seit 1906 gibt es in Großbritannien kein Recht auf Streik mehr, sondern nur noch eine begrenzte Immunität für die Streikorganisatoren.“

Es ist keineswegs überraschend, daß die Torys aus der Sozialcharta ausgestiegen sind. Schließlich haben sie seit ihrer Machtübernahme 1979 mit erheblichem politischem Aufwand Mindestlöhne, Kündigungsschutz und „exzessive Rechte der Gewerkschaften“ abgeschafft. 1950 lag Großbritannien bei den Sozialausgaben noch an der Spitze in Europa. Dreißig Jahre später war man fast ans Ende der Tabelle gerutscht. Und die Demontage des Sozialstaats ist längst noch nicht beendet: erst im November legte die Regierung ein Gesetz zur Abschaffung der Lohnräte vor, das im nächsten Herbst in Kraft treten soll. Die Lohnräte wachen seit Anfang des Jahrhunderts über die Einhaltung von Mindestlöhnen für die untersten Einkommensschichten. Sie vertreten immerhin 2,5 Millionen Arbeitskräfte, achtzig Prozent davon Frauen. Arbeitsministerin Gillian Shephard machte die Mindestlöhne für die hohe Arbeitslosigkeit mitverantwortlich. Das neue Gesetz zielt außerdem darauf ab, die Rechte der Gewerkschaften weiter einzuschränken und die EG-Direktive zum Kündigungsschutz schwangerer Frauen zu verwässern.

Die Labour Party hat sich im Zuge ihrer Sozialdemokratisierung der Sozialcharta verschrieben, aber bisher weder ein konkretes Programm vorgelegt noch Bündnispartner gewonnen. Erst jetzt hat sie eine „Nationale Kommission für soziale Gerechtigkeit“ einberufen. Freilich hat sich die Partei abgesichert und der Kommission einen unabhängigen Status verpaßt, damit etwaige unpopuläre Vorschläge nicht sofort auf die Labour Party zurückfallen. Parteiführer John Smith hat bereits angekündigt, daß er aus dem Vorschlagsmenü das passende auswählen will.

Die Kommission steht vor der Frage, wie die regressive Politik des vergangenen Jahrzehnts umgekehrt werden kann, ohne die WählerInnen durch massive Steuererhöhungen zu verprellen. Unter der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher sind die Steuererleichterungen für die Mittel- und Oberschicht durch Kürzungen im Sozialbereich und bei den öffentlichen Dienstleistungen finanziert worden. Dennoch lag das Steueraufkommen nach zehn Jahren Thatcher-Herrschaft um 27 Milliarden Pfund niedriger. Darüber hinaus profitieren die Mittelklassen überproportional vom Wohlfahrtsstaat. Von den fünf Millionen Pfund, die der Steuernachlaß auf Hypothekenzinsen kostet, gehen drei Fünftel an Menschen mit einem Einkommen von mehr als 20.000 Pfund (knapp 60.000 Mark) im Jahr. Bei den Renten ist es ähnlich: ein Fünftel der Menschen, die eine staatliche Rente beziehen, verfügen aufgrund von Privatversicherungen ohnehin über mindestens 12.000 Pfund.

Zum ersten Mal wird in der Labour Party deshalb über eine bessere Zielrichtung als Alternative zu einer globalen Erhöhung der Sozialleistungen diskutiert. Wollte man zum Beispiel das Kindergeld um ein Pfund pro Monat erhöhen, kostete das den Staat 600 Millionen Pfund im Jahr. Davon würden aber nicht nur Familien an der Armutsgrenze profitieren, sondern auch der Herzog von Westminster. Und eine Erhöhung der Renten um ein Pfund pro Woche belastet den Etat mit einer Milliarde Pfund im Jahr. Verteilt man das Geld dagegen nur unter den KleinrentnerInnen, könnte die Erhöhung vier bis fünf Pfund betragen.

Konkrete Ergebnisse sind von der Labour-Kommission in naher Zukunft kaum zu erwarten. Niemand ist konservativer als die Labour Party, wenn es um die Sozialpolitik geht. Doch gerade jetzt, wo Großbritannien in der Krise steckt und die Arbeitslosenzahlen Rekordhöhe erreicht haben, wäre ein neuer Ansatz erforderlich, um zu verhindern, daß die Armen noch ärmer werden. Mit dem Ausstieg aus der Sozialcharta haben die Torys bewiesen, daß mit ihnen dabei nicht zu rechnen ist.

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