: Weiße Kragen statt schmutziger Finger
■ Alte Berufsvorstellungen schrecken Jugendliche von Ausbildung im Handwerk ab / Handwerkskammer: Weiterer Bewerberrückgang
Das Berufsinformationszentrum das Arbeitsamtes hat beobachtet, daß im vergangenen Jahr nur noch 3.886 Jugendliche Interesse an einer betrieblichen Ausbildung hatten. 1985 waren es noch 9.273. Die Nachfrage auf dem Lehrstellenmarkt ist ungebrochen. Zur Ausbildungssituation im Bremer Handwerk sprach die taz mit Johannes Vocken, dem Abteilungsleiter für Berufsbildung an der Handwerkskammer.
taz: Stimmt es, daß die Betriebe den roten Teppich ausrollen müssen, um überhaupt noch Lehrlinge zu bekommen?
Johannes Vocken: Das ist richtig. Wir haben einen drastischen Rückgang der Bewerberzahlen, der sich in Bremen in zweistelligen Werten ausdrückt. Das Interesse der Schüler richtet sich immer mehr auf den tertiären Bereich.
Also Dienstleistungen, „weiße- Kragen-Berufe“?
Ja. Das hat auch etwas mit den Bildungsvoraussetzungen und -vorstellungen der Eltern zu tun, die sich in unserer Gesellschaft ja generell gewandelt haben. Außerdem existieren über die heutigen Handwerksberufe völlig falsche Vorstellungen. Viele glauben immer noch an das alte Schwarz-Weiß-Bild, daß man sich im Handwerk die Finger schmutzig macht, im Bürobereich dagegen nicht. Das gilt aber nur noch in wenigen Bereichen, im Bau oder im KfZ-Bereich.
Welche Branchen haben denn Ihrer Erfahrung nach besondere Schwierigkeiten, Auszubildende zu bekommen?
Das sind das Nahrungsmittelgewerbe, das Baugewerbe. Generell haben aber auch Kraftfahrzeugmechaniker und Elektroinstallateure Schwierigkeiten, alle Plätze zu besetzen.
Wenn Sie sagen „Plätze zu besetzen — sind dies dann Arbeitskräfte, die in der Personalplanung einkalkuliert werden?
Man muß das so sehen, daß diese Betriebe bereit sind, eine Ausbildung anzubieten, und dies öffentlich bzw. dem Arbeitsamt bekanntgeben. Das Handwerk ist insofern dringend darauf angewiesen, als es nachher seinen Nachwuchs, also die Gesellen, daraus rekrutiert. Es ist stärker darauf angewiesen als die Industrie, weil die Industrie ja Lehrlinge aus dem Handwerk aufnimmt — umgekehrt ist dies nur ganz vereinzelt der Fall.
Eine zeitlang war es ja beinahe Mode, als Abiturient oder Student ein Handwerk zu lernen, um sich selbst zu verwirklichen oder kreativ tätig zu sein. Gibt es diesen Trend noch?
Das gab es eigentlich nur in den Bereichen, in denen Leute keine Arbeit gefunden und durch die zusätzliche Lehre ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert haben. Studenten spielen bei uns im Grunde keine Rolle. Und Abiturienten auch nicht. Wir haben zwar einige ausgebildet, aber meistens, wenn sie für ein bestimmtes Studium eine Lehre brauchten, um praktische Kenntnisse nachzuweisen.
Hat dies vielleicht damit zu tun, daß es schwieriger ist, vom Lehrling zum Handwerksmeister aufzusteigen als vom Studenten zum Ingenieur?
Ich weiß nicht, ob es viel schwieriger ist. Das ist relativ und hat auch mit den Berufsvorstellungen zu tun, daß dies der einfachere Weg ist. Es ist aber sicher zu kritisieren, daß für einen Lehrling aus dem Handwerk, der zum Gesellen und Meister aufgestiegen ist und sich nicht selbständig machen kann, an diesem Punkt bisher Endstation war. Dies versuchen wir ja dahingehend zu verändern, daß auch ein Meisteraspirant unter bestimmten Bedingungen Zugang zur Hochschule erhält.
Haben sich die Gehälter der Azubis denn inzwischen den Verhältnissen angepaßt?
Das kann man eigentlich bejahen. Es gibt natürlich einige Branchen, die nur sehr wenig bezahlen. Der Durchschnitt liegt bei 800 Mark.
Wirkt sich das zunehmende Umweltbewußtsein auf die Ausbildungssituation im Handwerk aus, daß z.B. mehr Jugendliche in Gartenbau oder Tischlereien wollen?
Nein. Aber auf die Ausbildung selbst wirkt sich das Umweltbewußtsein natürlich aus. Viele Betriebe treten ja mittlerweile sehr umweltbewußt auf, etwa im Malerbereich.
Mit wievielen Azubis rechnen Sie denn für 1993?
Wir gehen davon aus, daß '93 die Zahlen weiter sinken werden. Im vergangenen Jahr hatten wir ungefähr 1.400 neue Lehrverträge abgeschlossen. Insgesamt hatten wir für alle Lehrjahre einen Bestand von 4.558.
Ich möchte abschließend den Jugendlichen, aber auch ihren Eltern, dringend raten, sich vor Abschluß eines Lehrvertrages die konkreten Gegebenheiten anzuschauen, also in die Betriebe gehen und gucken, was da abläuft. Weil wir immer wieder feststellen, daß die Schüler nicht wissen, was den Beruf eigentlich ausmacht.
Interview: Birgitt Rambalski
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