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Tragödien en famille

■ Psychologe in Oldenburg untersucht „psychologischen Familienstammbaum“

Das Ehepaar, 57 und 52 Jahre alt, feierte Silvester im Freundeskreis in Damme (Landkreis Vechta). Sie hatten keinen Streit miteinander, sagen die Freunde. Alkohol hatten sie kaum konsumiert, sagt der Obduktionsbefund. Warum der Mann nach der Heimkehr von der Party seine Frau im Bett erwürgte und sich selbst im Treppenhaus erhängte, wird der Oldenburger Oberstaatsanwalt Gerhard Kayser nach eigener Einschätzung als unbeantwortete Frage in der Akte stehenlassen müssen. Wenn der tote Täter keinen Abschiedsbrief hinterläßt, bleiben nur Vermutungen und Erfahrungswerte. Der Staatsanwalt: „Es gibt innerfamiliäre Konflikte, die kein Außenstehender mitbekommt, Martyrien, aus denen sich jemand urplötzlich befreien will.“

Für jede dieser Familientragödien gibt es eine Erklärung, behauptet der Psychologieprofessor Peter Kaiser (42), der seit zehn Jahren Familienforschung betreibt und die Familientherapeutische Ambulanz der Universität Oldenburg leitet. Ob ein Vater, Ehemann oder Ex-Partner zum Täter wird, ist laut Kaiser durch seine „soziale Vererbung“ vorgezeichnet. Patienten, die in der Uni-Ambulanz Hilfe suchen, müssen als erstes einen „psychologischen Familienstammbaum“ ausarbeiten. Bis zur Generation der Großeltern werden Berufe, Beziehungen (eng oder distanziert), Krankheiten und Unglücksfälle ebenso abgefragt wie religiöse Bindungen oder jene Dinge, die in Familien als „Geheimnisse“ gehandelt werden.

Aus den Angaben des „psychologischen Familienstammbaums“ und den Gesprächen mit allen Familienmitgliedern entwickeln die Forscher und Therapeuten ein „Genogramm“. Darin sind die Verhaltens-und Beziehungsmuster ablesbar, die sich über Generationen in Familien fortgepflanzt haben. Gewalttätigkeit, Alkoholismus, Suizide und Unfälle können Familientradition im wörtlichen Sinn werden. Auffällig oft, verraten die „Genogramme“, gehen Männer und Frauen mit gleichen Familientraditionen eine Beziehung ein.

„Gewalt ist immer Ausdruck von Hilflosigkeit“, sagt Kaiser. Um die Gewalt, deren Folge schlimmstenfalls der Tod einer ganzen Familie ist, präventiv kontrollieren und damit ihren Ausbruch verhindern zu können, entwickelt er zur Zeit ein „Verfahren zur Selbsthilfe“, das jedem Laien ermöglichen soll, seine Gefährdung zu erkennen und sich rechtzeitig professionell beraten zu lassen. Um vorbeugend helfen zu können, müßten allerdings nach Ansicht Kaisers die meisten Therapeuten erst einmal lernen, mit diesen Patienten umzugehen, die in den meisten Fällen nicht der „redegewandten oberen Mittelklasse“ angehören.

Daß die Frauen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei den tödlichen Familientragödien immer die Opfer sind, erklärt der Psychologe mit der „geschlechtsspezifischen Verarbeitung“ von Erlebnissen. „Männer neigen zum aggressiven Abreagieren, Frauen zur emotionalen Verarbeitung.“ Oder anders: „Frauen gehen in die Psychiatrie, Männer ins Gefängnis.“ Karin Güthlein/dpa

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