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Die Stadt mit zwei Gesichtern

Montréal, die zweitgrößte französischsprachige Stadt der Welt, feierte ihr 350jähriges Bestehen. Noch ist die kanadische Metropole ein liebens- und lebenswerter Ort  ■ Von Stefana Sabin

Unter den nordamerikanischen Großstädten ist Montréal eine der ältesten: 1642 gründeten 54 französische Missionare unter Führung des Sieur de Maisonneuve auf einer hügeligen Insel mitten im St.- Lorenz-Strom die „Ville-Marie de Montréal“, die Stadt Mariens am Königsberg. Mit einem umfangreichen Kulturprogramm feierte im letzten Jahr Montréal, die zweitgrößte Stadt Kanadas und nach Paris weltweit die zweitgrößte französischsprachige Stadt, ihr 350jähriges Bestehen.

Während der Feierlichkeiten zu diesem Jubiläum wurde immer wieder an das schwierige Überleben der französischen Siedlungen im 17. und 18. Jahrhundert erinnert. Denn nicht nur die Indianer waren eine ständige Gefahr, der man allerdings mit militärischer Hilfe aus Paris entgegentrat, sondern auch die Engländer, die in Nordamerika schon mehrere Kolonien besaßen und durch die Erkundung der Hudson Bay bis weit in den Norden gelangten. Die französischen Siedlungen befanden sich in einer Zange zwischen den englischen Kolonien im Süden und den Besitzungen der Hudson's Bay Company im Norden. Immer wieder griffen die Engländer die französischen Siedlungen an und eroberten schließlich 1759 nach blutigemKampf zuerst die Stadt Québec und ein Jahr später auch Montréal.

1763, im Abkommen von Paris, überließ Frankreich „Kanada mit allen seinen Anhängseln“ der britischen Krone. Durch die Einführung der englischen Verwaltung und durch ethnischen Druck wurde die Anglisierung der Provinz betrieben. Damit begann ein Konflikt zwischen französischer und englischer Kultur, der bis heute anhält.

Mit den englischen Truppen kamen auch Kaufleute und Handwerker in die neue Provinz, vor allem nach Montréal. Sie nutzten ihre Geschäftsverbindungen nach London und New York und besetzten die Schlüsselpositionen der nach dem Krieg brachliegenden Wirtschaft. Die protestantischen Geschäftsleute brachten den Geist des ökonomischen Individualstrebens mit, und ein aggressiver Wettbewerb brach in die katholisch- feudale Ordnung der französischen Gesellschaft ein.

So wurde der Konflikt zwischen Franzosen und Engländern zu einem Konflikt zwischen Altem und Neuem, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Behäbigkeit und Hetze, zwischen laisser faire und do it now, zwischen Landwirtschaft und Industrie, zwischen Land und Stadt. Beschwor die katholische Kirche die besondere Beziehung der französischen Bevölkerung zu dem Land, das sie bearbeitete, so beschrieb die französischsprachige Literatur die Lebenswirklichkeit einer nach Sprache, Religion und Tradition eigenständigen Bevölkerung.

Während die Engländer die Trennung von Kirche und Staat schon damals vollzogen, blieb für die Franzosen die katholische Kirche die maßgebliche gesellschaftliche Kraft – bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts. Bis heute ist Montréal eine Stadt der Kirchen.

Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, der als Tourist 1881 Montréal besuchte, spottete, daß man keinen Stein werfen könne, ohne Kirchenfenster einzuschlagen. Auch die protestantischen englischen Geschäftsleute klagten in London über die Allgegenwart und Allmacht der katholischen Kirche. Außerdem sei die Provinzverwaltung zu nachgiebig gegenüber den Franzosen, die auf den Gebrauch ihrer Sprache bestanden. Schließlich verlangten sie – vergeblich – in dem „Annexation Manifesto“ von 1849 die Angliederung Montréals an die USA. Dabei spielten wirtschaftliche Überlegungen eine wichtige Rolle: die Hoffnung der tüchtigen Kaufleute auf den großen amerikanischen Markt.

Die geographische Nähe zum mächtigen Nachbarn im Süden prägte nicht nur die englische Bevölkerung Montréals, sondern auch die Franzosen, die den Niedergang ihrer Sprache befürchteten. Als 1867 Lower und Upper Canada vereinigt wurden und beiden eine Selbstverwaltung innerhalb des britischen Staatsverbandes zugestanden wurde, waren die Franzosen endgültig eine Minderheit in Kanada. Montréal war in einer besonderen Lage: Zwar stellten die Franzosen die Mehrheit (um 65 Prozent) – im Wirtschafts- wie im öffentlichen Leben waren sie jedoch in der Minderheit. Auch die Besiedlung des Westens und die wachsenden Handelsbeziehungen nach USA kamen dem Englischen zugute. Der unermüdliche Kampf der französischen Bevölkerung um kulturelle Anerkennung gipfelte vorläufig 1902 in der Gründung der „Société du parler français“.

Im Wirtschaftszentrum Montréal lernten die Frankokanadier Englisch, um sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten; auf dem Land kultivierten sie unter dem Einfluß der katholischen Kirche die französische Einsprachigkeit. Aber auch in der Stadt blieben die Frankokanadier unter sich. Sie begegneten den Einwanderern auch deshalb mit Unbehagen, weil diese Englisch als Königsweg zum wirtschaftlichen Erfolg lernten, und mieden soziale Beziehungen zu den Anglokanadiern. Montréal bietet noch heute ein Beispiel für die Trennung der beiden Kulturen: Während das Geschäftszentrum im besten Sinne des Wortes multikulturell ist, sind die Wohnviertel nach Sprachen getrennt. Der Osten ist französisch, der Westen englisch.

Mit der Weltausstellung 1967 wurde Montréal eine der bedeutendsten nordamerikanischen Großstädte, und ein umfangreiches Sanierungsprogramm gab dem alten Hafenviertel sein Gesicht wieder: Vieux Montréal wurde zum historischen Monument deklariert und eine Attraktion der immer zahlreicheren Touristen. Eine ehrgeizige Kulturpolitik lockte Theater- und Ballettgruppen, Galerien und Künstler in die Stadt. Das wirtschaftliche Wachstum wurde in neuen Bürotürmen sichtbar, die der Stadt eine Skyline verliehen, und in weitläufigen unterirdischen Einkaufszentren – den größten der Welt – ist man vor den strengsten Wintern sicher. Die Geschäftigkeit der gläsernen Wolkenkratzer und der vielspurigen Stadtautobahnen wurde durch die Gemütlichkeit der Stadthäuser (nach englischer Tradition) und der Bistros und Cafés (nach französischer Tradition) kompensiert.

Trotz allem blieb Montréal eine umstrittene Metropole. Denn während des Aufschwungs etablierte sich eine französische Wirtschaftselite, die ihre neu gewonnene Macht gegen die Vorherrschaft der Anglomontréaler richtete.

Die französische Sprache und Kultur in Kanada zu erhalten war ihr oberstes Ziel. Sprachpolitik gewann immer mehr an Gewicht und trug zu der „leisen Revolution“ bei, die durch den Wahlsieg der Liberalen 1960 ausgelöst wurde. Auf Bundesebene setzte der frankophone kanadische Premierminister Trudeau 1969 ein Gesetz durch, das Französisch und Englisch zu offiziellen Sprachen ganz Kanadas erklärte. In der Provinz Québec aber spitzte sich der Konflikt zu: Im Gesetz 101 von 1977 wurde Französisch zur einzigen offiziellen Sprache in Québec erklärt. Seitdem wacht eine „Commission de surveillence“, eine Sprachpolizei, daß die sprachlichen Richtlinien eingehalten werden. Besonders augenscheinlich wurde die neue Sprachpolitik im Montréaler Stadtbild: Nachdem die zweisprachigen öffentlichen Ankündigungen, eine Besonderheit dieser Stadt, zum Eindruck von kultureller Vielfalt beigetragen hatten, ließ das Gesetz 101 nur noch Französisch zu und machte Montréal auch in dieser Hinsicht zu einer französischen Stadt. Als 1988 das Gesetz 178 englischsprachige Werbung im Ladeninnern zuließ, außen aber den Zwang zum Französischen festschrieb, entbrannte die inside/outside-Kontroverse. Jetzt wurden auch längst international gewordene Alltagsbegriffe ins Französische übersetzt, und als man in Montréal keinen Hotdog mehr aß, wie überall sonst auf der Welt, sondern einen „chien-chaud“, und das Verkehrszeichen Stop durch Arrêt ersetzte, lachten sogar die Puristen der französischen Sprache im entfernten Paris.

Solche Übertreibungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Gesetzgebung für den Erhalt der französischen Sprache und Kultur in Kanada gesorgt hat, aber eben auch dafür, daß die anglophone Bevölkerung Montréals sich nun ihrerseits benachteiligt fühlt. Wegen der restriktiven Sprachpolitik zogen sich viele internationale Firmen aus Montréal zurück – mit ihnen ging das Kapital, und das Steueraufkommen sank. Ende der achtziger Jahre wurde Montréal als wichtigste kanadische Großstadt von Toronto überholt. Und seitdem die nationalistische Parti Québécois auch noch den Austritt der Provinz Québec aus der kanadischen Konföderation zu betreiben anfing, breitet sich in Montréal Krisenstimmung aus. Büroräume bleiben leer, und leer sind auch viele der durch Sanierung und Renovierung geschaffenen neuen Stadtwohnungen.

Noch ist Montréal nicht nur eine liebenswerte, sondern auch eine lebenswerte Stadt, in der Betonwüsten und Grünanlagen, Eleganz und Lässigkeit, Geschäftigkeit und Gemütlichkeit, Wirtschaft und Kultur wie in keiner anderen westlichen Großstadt im Gleichgewicht zu sein scheinen – einer Studie des Washingtoner Population Crisis Committee zufolge ist Montréal eine der drei Städte der Welt, in denen es sich am angenehmsten lebt. Aber 350 Jahre nach ihrer Gründung scheint der besondere Charakter dieser Stadt durch frankokanadischen Nationalismus gefährdet zu sein. Denn das Besondere von Montréal ist gerade die Mischung aus englischer und französischer, nordamerikanischer und europäischer Tradition, die auf der Welt einzigartig ist: eine nordamerikanische Großstadt in einer französischen Provinz, eine französische Großstadt in Nordamerika.

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