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Estland stoppt Privatisierung

Treuhandchef gefeuert/ Angst vor Massenentlassungen/ Kredit vom Internationalen Valutafonds zwingt zu Privatisierung  ■ Aus Tallinn Reinhard Wolff

Estland wollte bei der Privatisierung der Staatsunternehmen die erste der ehemaligen Sowjetrepubliken sein. Jetzt hat die Regierung zunächst wieder die Bremse auf dem Weg zur Marktwirtschaft gezogen. Die fast tausendprozentige Inflation macht die Bevölkerung unzufrieden; bei Massenentlassungen nach der Privatisierung wären soziale Unruhen nicht ausgeschlossen.

Mit riesigen Anzeigen wurden im Herbst Käufer für 38 große Staatsbetriebe gesucht. Das Geld schien gut investiert: innerhalb weniger Wochen meldeten sich über 400 Interessenten. Die nach dem Vorbild der deutschen Treuhand konstruierte Eesti Erastamisettevote (EERE) lud einige von ihnen gleich zu einem Ortstermin ein. Wenig später aber gab es Krach zwischen der Regierung und Treuhandchef Anders Bergmann – offiziell über Formfehler bei der Ausschreibung.

Tatsächlich aber steht dahinter wohl eher die Angst der konservativen Regierung, der Treuhandvorstand habe zuviel Macht. Außerdem munkelt man in Tallinn, daß der früher in Deutschland lebende Bergmann deutsche Investoren bevorzugen würde. Finanzminister Madis Üürike, der vor allem an Bergmanns Stuhl sägte, will hingegen lieber Lobbyarbeit für Leute aus seinem früheren Exil Schweden betreiben. Bergmann mußte seinen Stuhl für Ex-Außenminister Jan Manitzki räumen. Wie die Privatisierung jetzt weitergeht, ist unklar.

Viele EstInnen befürchten, die Treuhand werde eine ähnlche Politik mit ähnlichen Folgen machen wie ihre Vorbildinstitution in Deutschland: ExpertInnen gehen davon aus, daß beispielsweise von den jetzt noch 77.000 Beschäftigten in den 38 angebotenen Staatsunternehmen allenfalls die Hälfte nach einer Privatisierung ihren Arbeitsplatz behalten werden. Bis jetzt sieht es noch idyllisch aus: in den Zahlen der Statistik. Lediglich 7.000 EstInnen sind offiziell als arbeitslos registriert, 1,5 Prozent die verwunderlich niedrige Quote. Die Wirklichkeit aber ist anders. 20 Prozent ist die von ExpertInnen genannte Zahl, die aber in der Statistik so (noch) nicht auftaucht, weil die große Zahl der Beschäftigungslosen in unbezahlten Urlaub geschickt wurde oder ohne Lohn „freigestellt“ ist.

Schon im Herbst ging die Regierung davon aus, daß es noch ein bis zwei Jahre nur bergab gehen wird. Estland war ein Rädchen im großen, zentral geplanten sowjetischen Wirtschaftssystem, das 95 Prozent seines Handels mit den übrigen Teilen der Sowjetunion hatte: Estland schickte Lebensmittel, Maschinen und Textilien gen Osten und erhielt dafür Öl und andere Rohwaren – zu künstlich niedrigen Preisen. Die Folge: eine gewaltige Verschwendung an Energie und Materialien überall. Auf KäuferInnen im Westen kann man aufgrund der Qualität der hergestellten Waren noch lange nicht rechnen. „Das einzige, das hier produziert und nicht von schlechterer Qualität ist als woanders“, so Vladimir Alexejew, Betriebsrat beim Kraftwerk in Narva, „ist Strom.“

Hinter der Absicht einer schnellen Privatisierung steckte vor allem eine Institution, die von estnischen Geschäftsleuten als der „neue Kreml“ tituliert wird: der Internationale Währungsfonds (IWF). Im August unterschrieb der damalige Premierminister Tiit Vähi ein Abkommen zwischen Estland und dem IWF, in welchem sich die Regierung verpflichtete, die Preise freizugeben, Subventionen abzubauen, nicht mehr konkurrenzfähige Unternehmen pleite gehen zu lassen – eben die Marktwirtschaft kräftig zuschlagen zu lassen. Und Estland verpflichtete sich zur Privatisierung der staatlichen Unternehmen. Nur unter diesen Voraussetzungen erhielt das Land eine Kreditzusage von 40 Millionen Dollar des IWF und weiteren 30 Millionen der Weltbank.

„Normale Forderungen“ sind dies für Kalev Kukk von der Eesti Pank, der estnischen Zentralbank, „wenn wir unsere Wirtschaft stabilisieren wollen“. Doch dahin ist es noch weit. Die Löhne und Renten sind so niedrig, daß die EstInnen ihre Krooni, die im Sommer eingeführte eigene Währung, dreimal umdrehen, bevor sie etwas kaufen. So ist das Angebot in den Geschäften zwar besser geworden, aber der Handel klagt gleichzeitig über einen Rückgang der Umsätze. Die Industrieproduktion ist wegen des schleppenden Inlandsumsatzes und des Wegfalls des sowjetischen Exportmarkts innerhalb eines Jahres um 50 Prozent gesunken. Hier allerdings zeichne die Statistik ausnahmsweise mal zu schwarz, behauptet Rudolf Jalakas, Banker und einer der Köpfe hinter der Währungsreform: Die Zahlen bezögen sich nur auf Staatsbetriebe. Der Privatwirtschaft gehe es schon wesentlich besser.

Auch aus dem Bankenwesen, dem überstürzt aufgebauten Zentrum jeder Marktwirtschaft, gibt es schlechte Nachrichten: Gleich drei der größten estnischen Banken mußte die Eesti Pank als Aufsichtsbehörde in einer Nacht- und Nebel-Aktion schließen. Doch nicht nur sie, sondern mehr als drei Viertel der 40 Banken, die in dem kleinen Land wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, sind inzwischen pleite. Aufgrund der laschen Gesetze konnte jeder eine Bank aufmachen, der knapp 1.000 DM Eigenkapital einsetzte.

Estnische JournalistInnen halten viele der Banken für bloße Geldwaschinstitute, in denen schwarze und andere kriminell erworbene Gelder weiß gewaschen werden. Die jetzt dicht gemachten Banken, in denen alle Konten eingefroren worden sind, haben in großem Stil abenteuerliche Kredite vergeben, ohne auch nur im geringsten auf Sicherheiten zu achten. „Alle schulden allen Geld“, ist ein gängiger Spruch, den man in vielen Gesprächen hört und der nur zu wahr ist: Wenn es gerade für das Essen reicht, keiner mehr Miete, Strom, Telefon und Heizung bezahlen kann und für größere Anschaffungen und alle windigen Geschäfte die Banken nicht gedeckte Kredite ausstreuen, bröckelt bald das brüchige Gebäude an allen Ecken. Zentralbankchef Siim Kallas hält auch nicht viel von Diplomatie und dachte gerade laut darüber nach, daß man möglicherweise noch mehr Banken schließen müsse – was einen neuen Run auf die Schalter auslöste und die EstInnen veranlaßte, ihr weniges Geld unter die Matratze zu stecken. Und auch die Regierung hält sich für nicht zuständig, Banken zu retten, wie der neue Premier Mart Laar unumwunden klarmachte. So droht die erste Etappe der Marktwirtschaft für die 25.000 KundInnen, die den drei jetzt geschlossenen Banken ihre Ersparnisse anvertrauten, zu einer mehr als bitteren Erfahrung zu werden.

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