piwik no script img

Träumende Paradiesvögel

■ Die Trilogie ist komplett: Woron und sein Teatr Kreatur haben ein "Stück vom Paradies" erobert

Ist Andrej Woron ein „Meister der Darstellung in Kurzform“? Seine Inszenierungen, nunmehr nach „Die Zimtläden“ und „Das Ende des Armenhauses“ die dritte, dauern nie mehr als eine volle Stunde. Den obskuren Meistertitel trägt in Worons jüngster Arbeit ein besonderer Paradiesvogel, der königliche Fotograf. Mit einem Ungetüm von Kamera, die mehr einem Mordinstrument gleicht, lichtet er vor einer himmlischen Panoramawand mit ausgesparten Köpfen die Englein ab. Engel ohne Flügel, denn der König hat Angst, sie könnten ihm davonfliegen. Und so träumen sie alle den großen Traum vom Fliegen.

Besonders paradiesisch sieht das Leben im Paradies jedenfalls nicht aus. „Hier im Paradiesgelände, / nichts hat Anfang, / nichts hat Ende“, stöhnen die Himmelsbewohner immer wieder im Chor. Alles ist zählebig, denn den Tod müssen sie, anders als die Erdenbewohner, nicht fürchten. Wohl aber den Engel des Todes, der dann und wann einen von ihnen, besonders von den jungen Menschen, zur Erde expediert. Dazu schlägt er mit einem Riesenhammer auf einen Hau-den-Lukas, wie er auf Jahrmärkten steht, damit Männer daran ihre Kraft messen können. Je kräftiger der Schlag, desto höher fährt die Scheibe. Da der Engel des Todes allerdings gerne einen über den Durst trinkt, haut er auch schon mal daneben. So erklären sich die Nasenstüber, die mancher Neugeborene ins Erdenleben mitbringt.

Im Jahr 1939 veröffentlichte der in die USA emigrierte polnische Schriftsteller Itzik Manger „Das Buch vom Paradies“. Es diente dem heute in Berlin lebenden Regisseur Andrej Woron, der auch aus Polen stammt, als Leitfaden für die Inszenierung. Seine 25köpfige Gruppe ist international zusammengewürfelt.

Wie schon bei Isaak Babel und Bruno Schulz, die seine beiden früheren Regiearbeiten literarisch inspiriert hatten (als großes theatralisches Vorbild ist außerdem Tadeusz Kantor zu nennen), handelt es sich um einen Autor, der die untergegangene ostjüdische Lebenswelt beschreibt.

Woron selbst stellt seine drei Inszenierungen in einen Zusammenhang: „Die Trilogie ist komplett“, schreibt er. Komplett und meist ausverkauft ist – spätestens seit Worons vorangegangene Inszenierung „Das Ende des Armenhauses“ zum Berliner Theatertreffen 92 nominiert wurde – mittlerweile auch das kleine, nur hundert Plätze fassende Theater in einer Berliner Hinterhof-Fabriketage, das deshalb aus allen Nähten platzt und umgebaut werden soll.

Skurrile Gestalten bevölkern das Paradies, wie man sie bereits aus Worons früheren Stücken kennt: Lumpengesindel aller Couleur. Der Engel des Todes trägt hölzerne Flügel. Und den siamesischen Zwillingen, die unglücklicherweise dieselbe Frau lieben, sind kleine Holzleitern auf den Rücken gebunden – sie können ja, aneinander gefesselt, nicht wegfliegen. Wieder laufen diese Elendsgestalten geduckt, aneinandergedrängt, wie aufgedrehte Figuren zur Jahrmarktsmusik; verstummt die eindringliche Musik, halten sie im gemeinsamen Schritt ein.

Immer wieder beschwört Andrej Woron mit seinen Inszenierungen eine versunkene Welt, ihre bizarre Poesie; diesmal jedoch wird mehr gesprochen und mehr erklärt. Als wäre dem Eigenleben der Figuren nicht mehr so ganz zu trauen. Oder haben sie sich selbständig gemacht?

Zu Beginn des Abends führt ein Stummfilm die paradiesische Truppe ein. Augen rollen, Gesichter zucken. Wenig später sieht man die Bande auf der Bühne wieder, ihre Welt ist eine kleine Drehscheibe unter einer als Schirm aufklappbaren Palme, dem Baum der Erkenntnis. Ein Engel unternimmt heimliche Flugversuche am Himmelstor, er stürzt ab. Zwei kleine soldatische Wachhäuschen stehen am Rande der Szenerie. Hier hausen Gott und der Teufel, ihnen sind Himmel wie Erden scheißegal. Also machen sich die Engel am Ende auf und davon, in einen großen gemeinsamen Traum. Sie haben sich phantasievolle, ausgefallene Fluginstrumente gebastelt; einer hat einen kleinen Regenschirm zum Propeller umgebaut, ein anderer sich ein Rad auf den Rücken gebunden. Damit hebt Worons Inszenierung doch endlich noch kräftig ab: jedes Flugobjekt ein Kunstobjekt dieses Regisseurs, der zugleich bildender Künstler ist. Dabei halten die Engel Puppen in den Armen, ihre Doppelgänger; ein traumhaft schöner und versöhnlicher Ausklang, der dem jähen Ende, dem Absturz beim Fliegen, immer tödlich nah bleibt.

Worons Theater ist obsessiv wie das von Tadeusz Kantor; es arbeitet mit Puppen, Objekten und (sehr guten) Schauspielern. Auf ausgesprochen lebendige, warme und sinnliche Weise wird die Welt der Toten ins Bewußtsein gerufen. Weil diese Welt tatsächlich lebendig wird, eine Stunde lang, ist sie gegen Folklorisierung gefeiht. Anders als bei Kantor brauchen die Schauspieler den Meister für das theatralische Ritual nicht in persona auf der Bühne. Woron ist der Geschichtenerzähler, der Arrangeur; ein „Meister der Darstellung in Kurzform“. Sabine Seifert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen