: Der Oberstaatsanwalt hörte zu
■ Zwei Jahre Haft auf Bewährung für 22jährigen Kurden / Er hatte bei einer Demonstration mit einer langen Blechstange auf Polizeibeamte eingeschlagen
Moabit. Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören, so still war es im Gerichtssaal, als der Vorsitzende der 1. Strafkammer, Paul-Heinrich Hoyer, das Urteil verkündete: Zwei Jahre Haft auf Bewährung für den 22jährigen Kurden Veysel T., wegen versuchter Gefangenenbefreiung, gefährlicher und einfacher Körperverletzung von drei Polizeibeamten. Jubelnd fielen sich seine Familienangehörigen und Freunde im Zuschauerraum in die Arme. Der Angeklagte selbst konnte zunächst gar nicht fassen, daß er aufgrund dieses Richterspruchs nun nach sieben Monaten U-Haft nach Hause gehen durfte. Dann brach er in Tränen aus. Es hatte auf Messersschneide gestanden. Wäre es nach dem Staatsanwalt gegangen, wäre der arbeitslose junge Mann für zwei Jahre und zehn Monate hinter Gittern verschwunden. Am 16. Mai vergangenen Jahres hatte Veyel T. in Kreuzberg an einer Demonstration der TKP-ML gegen die Kurdenunterdrückung teilgenommen. In der Adalbertstraße forderte die Polizei die 40 bis 50 Teilnehmer des nicht angemeldeten Aufzuges auf, die Fahrbahn zu verlassen. Diejenigen, die nicht folgten, wurden auf den Bürgersteig abgedrängt. Dabei kam es zu heftigen Auseinandersetzungen und herben Festnahmen.
Nach neuntägiger Beweisaufnahme stand für das Gericht jetzt fest: Veysel T. hatte mit einer langen Blechstange, an der zunächst eine große rote Mao-Fahne befestigt war, auf drei Polizeibeamte eingedroschen, um die Festnahme von Mitdemonstranten zu verhindern. Ein Beamter erlitt dabei eine vier Zentimeter lange Kopfplatzwunde. Die langen Plädoyers der Verteidiger, die Freispruch gefordert hatten, hatten die Richter nicht zu überzeugen vermocht. Aber sie teilten auch nicht die Auffassung des Staatsanwaltes, der darauf bestanden hatte, den Angeklagten wegen seiner „erheblichen kriminellen Energie“ und zur „Verteidigung der Rechtsordnung“ im Knast zu lassen. Die Taten, so Richter Hoyer, seien vielmehr „situationsbedingte Entgleisungen“ die wie bei Fußballspielen auf „Massensuggestion“ zurückzuführen und deshalb „in einem milderen Licht“ zu sehen seien.
Das Urteil und die Begründung kam einer Ohrfeige für den Staatsanwalt gleich. „Zur Verteidigung der Rechtsordnung“, stellte Hoyer klar, sei eine Haftstrafe „nicht erforderlich“. Der Staatsanwalt hatte damit argumentiert, eine Bewährungsstrafe würde die rechtstreuen Bürger irritieren und die Polizisten demotivieren, bei Demonstrationen weiterhin Straftäter zu verfolgen. Die Richter der 1. Strafkammer sahen dies anders: Die rechtstreuen Bürger würden sich an dem Urteil nicht stören und die Polizei ihren Dienst auch weiterhin verrichten. Für die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren offensichtlich große Bedeutung. Denn warum sonst hatte sich der Leiter der neuen Extremismus- Abteilung, Oberstaatsanwalt Carlo Weber, sowohl das Plädoyer seines jungen Kollegen als auch das Urteil – das lange nach Dienstschluß erging – persönlich angehört? plu
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