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Das Berliner Binoche-Syndrom

■ Mit strengem Kurzhaarschnitt und aufgerissenen Augen macht ein neuer Typus an den Kneipentischen Karriere

Nach langem Suchen ist endlich wieder ein europäischer Filmstar gefunden, und kaum eine Zeitung hat es versäumt, ihn zu hofieren. Meistens sind es Männer, die von der „magischen Anziehungskraft“ der 28jährigen Juliette Binoche schwärmen und in hymnischen Porträts das „Madonnengesicht“ und die „rätselhaft-schweigsame Schönheit“ preisen. „Ich gebe Licht“, erklärte die ehrgeizige Schauspielerin einem hingerissenen Berliner Journalisten unlängst. Im Unterschied zu ihrer Rolle als obdachlos Liebende vom Pont Neuf spielt Juliette Binoche in Louis Malles „Verhängnis“ eine modebewußte Diplomatentochter, die so nahe am Binoche-Image klebt, daß die Stilisierung zur Kultfigur unvermeidlich war. Wie die leidenschaftliche Anna kommt Binoche aus Paris, der Stadt der Leidenschaften. Die eine leiht der anderen den tiefgründigen, ernsten Blick, die schwarzen Haare, die weiße Haut und den Schneewittchenmund. Beide pflegen leidenschaftliche Affären – Binoche mit Carax („Er wollte mich ganz“), Anna mit ihrem Verlobten, ihrem Schwiegervater und mit ihrem Bruder, der sich umbrachte, weil er seine Schwester „nicht ganz für sich“ haben konnte. Kurzum: Sie ist eine Femme fatale, die Männer scharenweise in den Abgrund treibt – und dort liegenläßt. Wie Anna ihren pummeligen Verlobten Martyn, als er röchelnd stirbt.

Viele Wochen nach dem Kinostart ist es natürlich verspätet, sich über die ungelenken Gymnastikübungen lustig zu machen, bei denen Anna-Binoche mit ihrem Sexpartner aus lauter Begierde mal Küchengeschirr zerdeppert, dann wieder teure Modellkleider zerreißt. Vielleicht ist es dazu auch schon zu spät, denn der Film hat sich mittlerweile einen traurigen Zugang zur Wirklichkeit verschafft. In Berliner Kneipen kann man bereits die ersten Binoche- Imitate entdecken. Im Unterschied zu den eher vorlauten Claudia-Schiffer-Madonna-Blondinen erkennt man die Binoches im Alltag erst beim zweiten Hinsehen. Es sind blasse Frauen um die 30 mit strengen Kurzhaarschnitten, die oft in Begleitung von zwei oder drei Männern die Gaststuben aufsuchen und dann stundenlang nicht reden. [Eben: blaß! d. säzzer] Tiefschwarz gekleidet, mit weit aufgerissenen Augen starren sie ins Weite, melancholisch, unnahbar, und scheinen sich für die profanen Zeitgenossen und Tischnachbarinnen überhaupt nicht zu interessieren. Ab und zu rauchen sie aus stilistischen Gründen eine Zigarette. Wie das ausgeht, kann man sich nur in den finstersten Farben ausmalen. Gelangweilt von ihren plappernden Studienfreunden bleiben die Berliner Binoches irgendwann einmal vielleicht ein bißchen länger im Lokal als die Freunde, um auf den zu warten, der von ihrem stummen Blick elektrisiert wird – wie eben Jeremy Irons von Anna auf der Vernissage. „Ich muß dich haben“, sagte Irons ein paar Tage nach der ersten Begegnung auf offener Straße, und sie erwidert ein altkluges: „Ich weiß.“ Aber der einzige Graumelierte, der sich dann im wirklichen Leben zu jener späten Stunde in jene Kneipe verirrt und „sie“ anspricht, wird wahrscheinlich ein frustrierter Dozent mit einem Alkoholproblem sein oder ein gealterter Künstler, der sich nicht damit abfinden will, daß die Frauen ihn nicht mehr so attraktiv finden. Aber ein einziger Binoche-Blick wird ihm verraten, daß durch einen schönen Zufall heute ein klares Wort oder aber gar eine eindeutige Geste Erfolg verheißt. Vielleicht weiß „er“ nicht einmal, daß er dem Binoche-Syndrom sein Glück verdankt. Beim zweitenmal innerhalb kürzester Zeit aber wird sich der Graumelierte möglicherweise fragen, wer oder was denn neuerlich wieder Wasser auf die Mühlen der in erotischen Fragen tatkräftig zulangenden alten Männer gegossen hat. Dorothee Wenner

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