: „Immer kommen die Schwächsten dran“
Ein 16jähriger Berliner Schüler wurde von drei Klassenkameraden beinahe mit einem Seil erdrosselt und an einem Lüftungsrohr aufgehängt/ Die übrigen Schüler guckten zu ■ Von Plutonia Plarre
Berlin (taz) – Seit dem Elternabend steht für die alleinerziehende Bibliothekarin Evelyn Z. endgültig fest: Ihr 16jähriger Sohn Viktor wird nach den Ferien nicht mehr an die 5. Gesamtschule im Osten Berlins zurückkehren. Drei Mitschüler hatten den jungen Mann mit einem Seil stranguliert und an einem Lüftungsrohr aufzuhängen versucht. Die übrigen Jungen sahen zu. „Keiner“, so Viktor, „hat eingegriffen. Keiner hat was gesagt. Die meisten haben gelacht.“ Die mutmaßlichen Täter, der 17jährige Sascha und der 16jährige Stefan, sitzen inzwischen wegen versuchten Totschlags in U-Haft. Der 16jährige Francis erhielt Haftverschonung.
Was Viktor am Freitag dem 15. Januar nach der Sportstunde im Umkleideraum zwischen 12.40 und 13.00 Uhr wiederfuhr, überbietet alles an Brutalität, was an Berliner Schulen bisher dagewesen ist. Die Jungen und Mädchen der 10.Klasse hatten sich an diesem Tag wie üblich getrennt voneinander umgezogen. Die Ermittlungen und Zeugenvernehmungen ergaben, daß im Jungen-Umkleideraum plötzlich jemand gerufen haben soll: „So, jetzt hängen wir Viktor auf.“ Sascha und Stefan hätten ein Springseil um Viktors Hals geknüpft, das andere Ende über ein Lüftungsrohr in 2,20 Meter Höhe geworfen und zusammen mit Francis versucht, Viktor hochzuziehen. Das Rohr sei unter dem Gewicht jedoch abgekippt und Viktor zu Boden gefallen. Sascha soll später dazu gesagt haben: Er habe sich von den 12 zuschauenden Klassenkameraden „unwahrscheinlich angefeuert gefühlt“.
Daraufhin, so die Ermittlungen weiter, hätten Sascha und Stefan ihr Opfer in den Waschraum geschleift und den Knoten an der Halsschlinge mit Wasser befeuchtet, damit dieser nicht gelöst werden könne. Mit letzter Kraft gelang es Viktor, der bereits blau angelaufen war, seinen Peinigern zu entkommen. Der Junge flüchtete zu den Sportlehrern, die ihm das Seil vom Hals schnitten. Einer von ihnen brachte Viktor zur Rektorin. Die befand, daß der junge Mann allein zum Arzt gehen könne. Dabei begegnete Viktor dem dritten Tatbeschuldigten, Francis, der ihn zur Bushaltestelle brachte und ihm gedroht haben soll: „Halt die Schnauze, wenn du was erzählst, kriegst du was zu spüren.“
Im Krankenhaus, wo der Junge ambulant behandelt wurde, erfuhren zufällig Polizisten von dem Vorfall. Sie sorgten dafür, daß Evelyn Z. am späten Freitagnachmittag auf ihrer Arbeitsstelle benachrichtigt wurde. Die Schule meldete sich bei der Mutter, die ihren „völlig verstörten Sohn“ wiederaufzurichten versuchte, nicht. Evelyn Z.: „Wir saßen an dem Abend ganz allein hier.“
Die Rektorin rief erst am nächsten Mittag, einem Samstag, an. Daß sie Viktor allein zum Arzt geschickt hatte, begründete sie gegenüber ihrem Dienstvorgesetzten, dem Köpenicker Volksbildungsstadtrat Joachim Munte (SPD), später damit, die Schwere des Vorfalls nicht sofort erkannt zu haben. Viktors Hals sei lediglich leicht gerötet und etwas abgeschürft gewesen. Außerdem habe der Junge gelacht, von einem „blöden Scherz“ gesprochen und darauf bestanden, allein zum Arzt zu gehen. Daß dies eine „katastrophale Fehlentscheidung“ war, sei ihr aber erst danach klargeworden.
Auf die Frage, warum sie die Mutter erst so spät informierte, hat die Rektorin nach Angaben ihres Dienstvorgesetzten gesagt: Sie hätte am Freitag mehrfach vergebens versucht, Evelyn Z. zu erreichen. Für ihre gescheiterten Versuche von ihrem Diensttelefon in der Schule, so Munte, „gibt es Zeugen“. Die Schulaufsicht ahndete das „Fehlverhalten“ der 37jährigen Frau, die die Schule kommissarisch leitet, mit einer „disziplinarischen Maßnahme“. Sie bleibt aber weiterhin Rektorin. Die Ostberliner Rektorenposten werden erst Ende des Jahres besetzt.
Die Schüler und deren Eltern reagierten nach der Tat kaltschnäuzig. Von einer Ausnahme abgesehen hielt es keiner der Klassenkameraden für nötig, mal zu fragen, wie es Viktor geht, geschweige denn sich zu entschuldigen. Auch von den Eltern meldete sich bis auf eine Mutter niemand. Auf dem zur Aussprache anberaumten Elternabend war von Bedauern keine Spur. Statt dessen beschwerten sich die Schüler bei Viktors Mutter darüber, daß sie jetzt Angst haben müßten, wegen der Sache vielleicht keine Lehrstelle zu bekommen.
Ein Vater schwang sich sogar zu der Behauptung auf, die Z.s hätten die Medien informiert und an der Geschichte groß verdient. Weil sich Viktor als großer Zeitungsstar fühle, keifte der Vater, sei das berufliche Weiterkommen seines Sohnes gefährdet. Die alleinerziehenden Mütter der drei Täter waren gar nicht erst gekommen. Sie hätten sowieso keinen Einfluß mehr auf ihre Söhne, behauptet die Leiterin der Schule.
Das Gefühl, beinahe zu ersticken und einer geschlossenen Klassenfront gegenüberzustehen, hat den stillen Viktor mehr mitgenommen, als er zugeben möchte. Der öffentliche Rummel ist ihm unangenehm. Seine Mutter berichtet, daß er nachts öfters im Schlaf schreit. Warum ihn seine Klassenkameraden als Opfer auswählten? Viktor sagt: „Für mich kam das aus heiterem Himmel.“ Die Klasse sagt: „Es war Zufall.“ Für sie wäre das Ganze zunächst Spaß gewesen. Einige äußerten, sie hätten aus Angst, als nächste dranzukommen, nicht eingegriffen. Im weiteren Gespräch stellt sich jedoch heraus, daß Viktor in der Klasse ein Einzelgänger ist und die an der Schule verbreitete „Gewalt und rechte Meinung“ verabscheut.
Der in U-Haft sitzende Sascha dagegen trägt einen Stoppelhaarschnitt und hat meist eine Bomberjacke, Tarnhose und Doc-Martens-Schuhe an. „Sascha“, so Viktor, „ist ein Nazi.“ Vor Sascha hätten „alle Angst“. Der habe eine „echt furchteinflößende Statur“ und hätte sich im Unterricht damit gebrüstet, „immer voller Freude bei Krawallen“ dabei zu sein. Stefan, Francis und einige andere seien Mitläufer. Der Rest äußere sich nicht dazu.
„Ich selbst“, erzählt Viktor, „mache zu der ganzen rechten Meinung nicht groß den Mund auf, erkläre denen nur, wie das mit den Ausländern ist. Daß wir sie auch nötig haben.“ Aber das sei nicht der Grund dafür gewesen, daß er aufgehängt worden sei. Denn: „Es werden immer die drangenommen, die sich nicht wehren können.“
Viktors größte Sorge ist jetzt, daß sich Sascha und dessen „Kumpels“ rächen könnten. Beschützen könne ihn keiner, bekennt der 16jährige: „Wenn ich zur Schule gehe, muß ich eben immer vorher um den Block gucken, daß keiner von denen auftaucht.“
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