Erzählen, Erzählen, Erzählen

Ein Gespräch mit Edgar Reitz, dem Regisseur von „Die zweite Heimat“  ■ Von Christiane Peitz

taz: In Ihrer Biographie steht, Sie wären gerne Komponist oder Musiker geworden? Wieso wurden Sie Filmemacher?

Edgar Reitz: Mit Musik muß man sehr früh anfangen. Dazu braucht man Eltern, die das einsehen und dahinterbleiben. Als ich soweit war, daß ich meinen eigenen Weg suchte, war es dafür zu spät. Ich habe aber beim Filmemachen immer meine Inspiration aus der Musik genommen. Zwischen Film und Musik bestehen formal ungeheure Ähnlichkeiten. Zum Beispiel was Rhythmus angeht, die Aufteilung von Zeit, die Aufeinanderfolge von Themen. All die musikalischen Formen wie Variation, Umkehrung, den Moment des Wiedererkennens, Motivik, Leitmotivik gibt es auch im Film. Meine Filme sind manchmal fast wagnerianisch mit Leitmotivik durchsetzt. Es macht mir großen Spaß, musikalisch zu arbeiten.

„Die zweite Heimat“ ist vermutlich die erste deutsche Fernsehserie, in der die Zuschauer erfahren, was Aleatorik ist und wie man ein Klavier präpariert. Wie kam es, daß Sie für die Geschichte der Sechziger Jahre nicht nur den Seiteneinstieg über die Musik wählten, sondern auch noch speziell über die sogenannte Neue Musik?

Die Neue Musik hat mich schon sehr früh interessiert. Da wurde etwas versucht, was umgekehrt der Filmarbeit verwandt ist. So sehr ich meinerseits von der Formenwelt der Musik profitiere, so hat die Neue Musik sehr viel aus der Formenwelt des Films übernommen. Zum Beispiel die Technik der Montage. Als die elektronische Musik hinzukam, wurde es noch ähnlicher, man arbeitete mit Bändern und Schnitt. Ich befreundete mich in diesen Jahren mit einer ganzen Reihe von Musikern und Komponisten, auch Nikos Mamangakis (Komponist der Filmmusik zu „Die zweite Heimat“/ Anm. Chp) habe ich damals kennengelernt. Ich bin jedes Jahr nach Donaueschingen gepilgert.

Hatte Ihr Interesse auch damit zu tun, daß in Donaueschingen, Darmstadt und anderswo schon Anfang der Sechziger Jahre ästhetische und politische Debatten geführt wurden, die erst 1968 für viele wichtig wurden?

Es ist noch extremer. Die Neue Musik war den anderen Künsten weit voraus. John Cage hat schon in den Dreißiger, Vierziger Jahren Fragen gestellt, die heute als postmodern gelten. Auch wurde zum Beispiel die Frage der Harmonik sehr früh politisch gedeutet: die Frage nach der Gleichrangigkeit aller Töne, die Abschaffung der Unterordnung unter einen dominierenden Ton, die basisdemokratische Organisation des Materials.

Spielte all das eine Rolle für die Entscheidung, daß die Hauptfigur der „Zweiten Heimat“, Herrmann, ein Komponist der Neuen Musik ist und daß die Geschichte damit von der Musikhochschule München ihren Ausgang nimmt?

Die Musikhochschule in München war kein Zentrum der Neuen Musik, im Gegenteil. Dort sind alle Neuerungen bekämpft worden, es war eine ganz und gar konservative Hochschule. Wenn ich Herrmann als Neutöner an die Münchener Hochschule gehen lasse, kann ich damit viel besser zeigen, was er wollte, weil das von den Professoren und seiner Umgebung nicht gefördert wird. Das ergibt mehr Spannung, als wenn er beispielsweise nach Köln gegangen wäre, wo Cage war und wo man Stockhausen zum Professor machte, was man in München nie getan hätte. Dazu kommt, daß die Musik als künstlerische Betätigung sinnlicher ist als andere Künste. Bei einem Schriftsteller sieht man eigentlich nicht, was er tut. Bei einem Maler ist es im Grunde genauso, der Rest ist Attitüde. Bei der Malerei kommt man leicht in Gefahr, sie als etablierte Bohème zu zeigen. Bei der Musik ist vor allem eins wichtig: Man kann nicht mogeln. Niemand kann einfach eine Geige in die Hand nehmen und sagen, er wäre Geiger. Dafür muß man jahrzehntelang täglich fünf, sechs Stunden üben, erst dann kann man das. Auch die Neue Musik mag noch so fremd klingen, ohne zwei Jahrzehnte intensives Studium bringt man nicht einen brauchbaren Ton hervor.

Spricht aus Ihnen jetzt respektvoller Neid?

Imponierend an der Musik ist für mich, daß Musiker Leute sind, die ernsthaft arbeiten müssen. Auf fast allen anderen Gebieten kann man mogeln, in der Malerei wird wahnsinnig viel gepfuscht und am meisten beim Film. In Deutschland kann man ohne irgendwelche Kenntnis des Metiers Fördergelder bekommen, und Jahr für Jahr bekommen Leute Geld für Erstlingsfilme, die nicht einmal mogeln können. Und Schreiben lernen wir alle in der Schule, deshalb gibt es entseztlich viele Leute, die sich für Schriftsteller halten. All das ist in der Musik nicht denkbar. Sie ist seriös.

Im Film ist die Musik immer live. Die Schauspieler simulieren nicht, sie spielen die Instrumente tatsächlich. Mir ist dabei aufgefallen, daß das Musizieren eines der wenigen Dinge im Kino ist, die sich nicht oder nur sehr schwer simulieren lassen. Wenn Gerard Depardieu in „Die siebente Saite“ Gambe spielt, sieht man, daß er sie nicht wirklich spielt. Reizt das den Filmemacher: Daß mit dem Musikmachen eine Grenze der Fiktion erreicht ist und daß das „echte“ Musizieren den Filmfiguren eine größere Authentizität verleiht?

Brecht hat gesagt: Arbeitsvorgänge kann man nicht spielen. Brecht ließ seine Schauspieler Arbeitsvorgänge auf der Bühne wirklich verrichten. Ich halte das auch beim Film für elementar. Wenn ein Schauspieler einen Nagel eingschlägt und der kann das nicht, werde ich wahnsinnig. Ich suche dann einen Schauspieler, der das kann. Es ist eine Frechheit, wenn einer sich hinsetzt und so tut, als könne er Klavier oder Geige spielen. Als ob mit ein bißchen Mimik auszudrücken wäre, was dabei vor sich geht. Die meisten Musiker haben während eines Vortrags ein ungeheures Mienenspiel...

Manche sehen dabei sehr häßlich aus.

Auch das. Es gibt eine Szene in der „Zweiten Heimat“, am Hochzeitstag von Herrmann. Volker spricht mit Clarissa und spielt währenddessen „Gaspard de la Nuit“ von Ravel, das ist ein sehr schwieriges Stück, dessen impressionistische Tonfolgen eine unglaubliche Geläufigkeit und Präzision erfordern, und dabei noch tupferhaft leicht klingen müssen. Das wirklich zu spielen und dabei noch einen Dialog zu führen, erfordert nicht nur höchste Konzentration, sondern dabei entsteht etwas, was jenseits aller Kontrollmöglichkeiten liegt. Der Schauspieler kann nicht mehr kontrollieren, was er tut und sagt.

Ähnlich ist die Szene, in der Herrmann und Clarissa Herrmanns Cello-Sonate üben und sich dabei, zumindest indirekt, ihre Liebe gestehen. Oder Herrmann mit den drei Frauen in der Dachkammer in Dülmen, als er Beethovens „Sturmsonate“ spielt.

Die „Sturmsonate“ spielen, mit diesen Arpeggios im Adagio-Teil, und sich dabei verführen lassen... (lacht). Das ist eine unglaubliche Leistung. Es war nicht leicht, einen Schauspieler zu finden, der das wirklich spielen kann.

Es gibt mehrere Verschiebungen. Sie erzählen nicht die Geschichte der Autorenfilmer, was ja naheliegend gewesen wäre, sondern die der Neutöner. Sie erzählen auch nicht die Geschichte Ihrer Generation, denn 61 waren Sie bereits etwas älter. Und drittens erleben die 61er, also die Helden der „Zweiten Heimat“, die Welt der 68er als etwas Anderes, Fremdes. Renate sagt im Film: „Wir sind für die Revolution genau acht Jahre zu alt.“ Die Sechziger Jahre, die hier beschrieben werden, sind die Zeit, in der der Junge Deutsche Film entstanden ist, zu dem ich ja gehöre. Ich habe in dieser Zeit einen ähnlichen Aufbruch erlebt wie Herrmann. Ich bin also sehr befangen. Außerdem empfinde ich gegenüber dieser Zeit eine Trauer, die sehr irritierend ist. Wir haben Abschied nehmen müssen von Utopien, von Lebensentwürfen.

Damals oder erst später?

Es ging ja sehr schnell. Wir sind mit unseren Visionen einer Gesellschaft, einer Zukunft, eines eigenen Lebens im Kopf sehr schnell vorangekommen, aber in Wirklichkeit hat keine Revolution stattgefunden. Natürlich gibt es Lebensbereiche, in denen sich viel geändert hat, in der Musik, der Sexualität,... (überlegt), ja doch, ich würde sagen: Musik und Liebe. Aber auch das ging nie soweit wie in unseren Vorstellungen. Wichtiger als das Ziel war das Gefühl der permanenten Entwicklung. Eine Generation fing an sich vorzustellen, die erste zu sein, die in Permanenz in Bewegung ist. Es ging nicht darum, einen Schritt zu gehen, sondern um die Unendlichkeit der Möglichkeiten. Darauf waren wir stolz, und dieser Stolz hat sich in einem fundamentalen demokratischen Gesinnung niedergeschlagen. Meine Generation ist in der deutschen Geschichte die demokratischste Generation, sie war nicht ohne weiteres korrumpierbar. Dennoch sind wir gescheitert. Der 68er Generation ist es lediglich gelungen, die bürgerlichen Ordnungsvorstellungen so gründlich zu erschüttern, daß sie Gewalt gegen sich selbst ausgelöst und damit sich selbst in die Knie gezwungen hat. Meine Generation war nicht gefährlich, sie hat nur gefährlich geredet.

Steckt diese Trauer im letzten Satz der „Zweiten Heimat“: „Herrmännchen, du hast dich ja gar nicht verändert“?

Möglicherweise. Es ist erschreckend und grauenhaft, nach dieser Anstrengung und dieser Hoffnung auch noch von denen zu Hause als das wiedererkannt zu werden, was man war, ehe man weg ging. Ich empfinde das als eine tiefe Wunde. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir es ertragen, daß die Geschichten und Bilder dieser Zeit in Vergessenheit geraten. Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft, die unglaublich schnell zur Tagesordnung übergeht und nur das Aktuelle kennt. Wie schnell war der Golfkrieg kein Thema mehr. Deshalb ist das Wichtigste: Erzählen, erzählen, erzählen. Wenn das Erzählen nie mehr ein Ende nähme, wäre es mir am liebsten.

Die Berlin-Episode der „Zweiten Heimat“ wirkt deutlich anders, distanzierter. Zum erstenmal stellen Sie da historische Szenen nach, etwa das berühmte Nacktfoto der Kommune 1 und werfen ähnlich wie Herrmann einen distanzierten Blick auf die befremdlichen 68er. Steckt darin ein Stück subjektive Ehrlichkeit?

Ich war kein Revoluzzer und kein Mitlgied der Studentenbewegung. Dafür war ich erstens wie gesagt ein paar entscheidende Jahre zu alt und zweitens glaube ich, daß wir unsere Utopien in dem Bereich verwirklichen müssen, in dem wir etwas gelernt haben. Eine wirklich produktive Beziehung zur Gesellschaft kann ich nur in diesem Bereich entwickeln. Wenn ich zwanzig Jahre lang Geige gelernt habe, darf ich nicht plötzlich etwas anderes machen. Das ist anders als in der Politik. Ein Ministerialbeamter kann heute das Ressort Sport verwalten, morgen die Polizei und übermorgen das Filmressort. Die Karrieren sind beliebig, weil die Menschen nichts verstehen von dem, was sie tun.

Der Künstler bleibt zurück gegenüber der Revolution. Die Bürokraten sind viel schneller, sie haben sie längst abgetan. Herrmann ist ein Langsamer, ein Gründlicher. Es gibt diese Szene mit Katrin im Cafe Möhring. Da sagt er: „Ich habe gelernt, daß es verwerflich ist, im Gleichschritt zu marschieren und unter der Würde eines Menschen, blinden Gehorsam zu üben und Fremde zu hassen.“ Ist ja heute ziemlich aktuell. Aber das hat er nicht von der 68er, sondern in der Nachkriegszeit aus amerikanischen Lehrbüchern für eine humanitäre Gesellschaft gelernt. Das war nichts Revolutionäres, aber es wird dazu, wenn man es ernst nimmt.

„Die zweite Heimat“ erzählt die Geschichte derer, die in den 60er Jahren zwischen Zwanzig und Dreißig waren. Es ist die Generation, die heute das Gesicht der Bundesrpublik prägt. Spielte diese Überlegung eine Rolle beim Schreiben des Drehbuchs?

Die erzählerischer Arbeit funktioniert nur im Imperfektum. Ich habe versucht, den Film durch den Kommentar in die Vergangenheitsform zu versetzen. Eigentlich ist Film immer Gegenwart, ich wende also einen sprachlichen Trick an. Es ist eine Rückwärtsbetrachtung, aber natürlich ist sie heute entstanden. Letztendlich handelt er heute.

Sie haben einmal Ihre erste Liebesgeschichte verfilmt. Hinterher sagten Sie, jetzt wüßten Sie nicht mehr, wie sie wirklich war. Gilt das jetzt auch für die Sechziger Jahre?

Das ist eine verfängliche Frage. Unser Gedächtnis ist nicht fähig, chronologisch und folgerichtig zu arbeiten. Was wir in unserem Gedächtnis mit uns herumtragen, ist nur assoziativ abrufbar. Wir können uns niemals systematisch erinnern. Unser Bewußtsein schwimmt in diesem Ozean von Erinnerungen umher wie ein kleines Schiffchen und läßt nur kleine Bereiche sichtbar werden. Dieses kleine Schiffchen ist die Assoziationskraft, die Fähigkeit der Phantasie, zwischen einzelnen Erinnerungsfragmenten Ähnlichkeiten zu entdecken und miteinander zu verbinden. So funktioniert das Erzählen.

Das heißt, man erfindet seine Geschichte?

Ich glaube, es gibt überhaupt nur Erfindungen. Die historische Wahrheit existiert nicht. Wenn Sie einen Menschen auffordern, dreißigmal hintereinander seine Biographie zu schreiben, wird die dreißigmal anders sein, je nachdem für wen und unter welchen Umständen er schreibt. Wir werden immer mogeln und unbewußt die Geschichte verfälschen. Die Sechziger Jahre, wie sie wirklich waren, gibt es nur einmal, da, wo sie passiert sind, zu ihrer Zeit. Geschichte kann man nicht festhalten, wir können sie in unserer Erinnerung nur bewahren und verfügbar machen, indem wir sie verfälschen und einen Roman daraus machen.

Anders als dem Wissenschaftler genügt dem Erzähler die Wirklichkeit nie. Kein Erzähler ist zufrieden mit den Tatsachen. Ich glaube, daß ich dort, wo ich am meisten gemogelt habe, wissentlich, nicht unbewußt, der Wahrheit auf Umwegen nahegekommen bin. Da, wo ich ihr direkt beikommen wollte, bin ich von ihr abgeraten. Deshalb mache ich Spielfilme und keine Dokumentationen.

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Sie haben sieben Jahre an dem Film gearbeitet. Welche Folgen hat diese ungewöhnliche Länge der Produktionszeit?

Wenn man einen Fehler macht oder in Verzug gerät, weil es regnet oder weil jemand krank wird, dann sind das bei einer normalen Spielfilmproduktion Katastrophen, die einen finanziell reineißen, das Team in hysterische Zustände versetzen usw. Das verliert sich alles, denn wir hatten Zeit. Es war das erstemal, daß ich nach dem Rohschnitt sagen konnte: Wir drehen's nochmal. Das ist ein unglaubliches Glück.

Welche Folgen hatte die Länge für die Bildersprache?

Man kann innerhalb des Filmes selbst Vorlieben bilden. Man kann sich während der Produktion verlieben in Atmosphären und Bilder und dieser Liebe nachgehen. So gibt es zum Beispiel in der längsten Episode, dem Venedig-Teil, die wenigsten Schnitte. Sie ist 132 Minuten lang, aber hat circa 200 Schnitte weniger als die ersten Teile. Wir haben das erste hinterher gemerkt, offenbar ist da eine Ruhe eingetreten.

Natürlich hat sich die Crew im Lauf der Zeit in ein Expertenteam zum Thema Sechziger Jahre verwandelt, von der Mode über Frisuren, Make up, Gebrauchsgegenstände bis zu den historischen Fragen. Aber bei allem Expertentum hatte ich nicht einen Augenblick das Gefühl, wieder in den Sechziger Jahren zu leben. Im Gegenteil: Ich habe immer stärker teilgenommen an der Welt und in der Gegenwart gelebt, habe Zeitungen gelesen, bin ins Kino gegangen, Nachrichten gehört. Früher, bei normalen Spielfilmen, ging das nie. Man lebte drei, vier Monate vollständig in der Fiktion. Ich erinnere mich, daß ich über solch eine Produktion einmal die Watergate-Affaire verpaßt habe. Hinterher wußte ich überhaupt nicht, was dieser Begriff bedeutet.

Diesmal habe ich eine Gelassenheit zu mir selbst gefunden. Das Wichtigste ist: „Die zweite Heimat“ wurde der Weg zu mir. Alle, die mich kennen, haben gesagt: Edgar, Du hast dich verändert.

Edgar Reitz: „Die zweite Heimat. Chronik einer Jugend in 13 Filmen", Deutschland 1992. 25 Std. 32 Min. (Gesamtlänge); Kamera: Gernot Roll, Gerard Vandenberg, Christian Reitz. Mit: Henry Arnold, Salome Kammer, Anke Sevemich, Noemi Steuer u.v.a.

Urania Kleist-Saal: 11.-14.2.; 15.-18.2.; 19.-22.2.; jeweils ab 15 Uhr