: Optimismus gefragt
Die Berlinale ‘93 ist eröffnet: Eine Standortbestimmung im internationalen Festivalzirkus ■ Von Wolf Donner
Die Deutschen nennen es stolz ihr „A-Festival“. Der Begriff und die Kategorie existieren gar nicht — eine Erfindung deutscher Journalisten. Der internationale Produzentenverband, der weltweit Gebahren und Regularien der Filmfestivals kontrolliert, und ebenso die europäische Filmszene, belächeln seit langem diese germanische Sucht, Rangfolgen zu etablieren und sich selbst ganz oben einzureihen.
Die Berlinale: eines der großen, wichtigen, attraktiven internationalen Filmfestivals. Man hört und liest das jedes Jahr. Am liebsten zitiert die Kultursenatsverwaltung die Renommierstatistiken und protzigen Selbstannoncen aus der Budapester Straße. Das jahrelange Unbehagen der seriösen Fachpresse an Berlin, die harsche Kritik quer durch die deutschen Medien und die miserable Stimmung der letzten Jahre werden per Gesundbeterei übergangen.
Aber vielleicht ist das Vergangenheit, besteht Anlaß zu neuem Optimismus. Es herrscht eine frohe, faire Erwartungshaltung. 14 europäische und nur vier reine US- Produktionen im Wettbewerb sind ein verblüffendes Novum. Der laute Ärger über ein hochdotiertes Kulturereignis als Durchlauferhitzer für aktuellen Hollywoodkommerz in den vergangenen Jahren hat sich gelohnt. Auch haben die Major Companies wohl gemerkt, daß ihr massives Berliner Aufgebot zunehmend mit schlechter Presse honoriert wurde.
Die Filmauswahl der Berlinale gibt trotzdem immer wieder Rätsel auf. Letztes Jahr hatte man Dietls „Schtonk“, Almodovars „High Heels“ und Annauds „Liebhaber“ verpennt, diesmal fragt man sich, warum in Deutschland oder Berlin gedrehte und teilfinanzierte Titel wie Greenaways „Baby of Macon“, Wenders „Himmel über Berlin 2“ oder Schlesingers „Unschuldige“ fehlen. Die offizielle Begründung heißt: nicht fertig – traditionell die Umschreibung für eine feste Buchung in Cannes. Auch die Deutsche Reihe, ein Service für auswärtige Käufer, Kritiker und Festivalscouts, ist ins Gerede gekommen. Manche Titel wirken reichlich deplaziert, andere, wichtigere fehlen, z.B. Wolfspergers „Probefahrt ins Paradies“, Schlingensiefs „Terror 2000“, Runges „Barmherzige Schwestern“, Viets „Frankie, Jonnie und die anderen“ und Askarians „Avetik“.
Der Wildwuchs des Berlinaleprogramms bleibt ein Ärgernis. In keinem Festival der Welt herrscht ein solches Chaos unkoordinierter Sektionen, nirgends flottiert der Besucher so hilflos in einer amorphen Masse, in der der einzelne Film nichts mehr wert ist. Aufgeblähte Unterabteilungen und Sonderschienen verwässern zusätzlich das traditionelle Profil des Programms. Weil sich deren Aquisiteure gegenseitig bekämpfen, desorientieren sie absichtsvoll die ausländischen Partner, statt sie über Strukturen und Möglichkeiten im Berlinalewust zu informieren. Besser ein Film läuft gar nicht in Berlin, als eine andere Sparte zu zieren und dort das Publikum anzulocken.
Nur die Messe stimmt alle froh. Über 600 Vorführungen, davon 80 Prozent Spielfilme, und 54 Stände aus 35 Ländern im Cinecenter belegen einen wirklichen Erfolg. Der Berliner Filmmarkt ist ausgewiesen durch Anzahl (ca. 320 aus 47 Ländern) und Güte (meist ambitionierte Low-Budget-Produktionen) der angebotenen Filme. Das Konkurrenzfestival Cannes ist durch die Präsenz der gesamten internationalen Filmindustrie eher eine Börse für Projektabsprachen, Koproduktionsdeals, Beteiligungen, Vorfinanzierungen etc. Berlin setzt diesem hochkarätigen Treiben an der Cote d'Azur den konkreten Handel mit fertigen Filmen entgegen.
Aber die räumlichen Kapazitäten reichen nicht länger dafür aus. Man muß endlich die Presse in die City zurückholen und die Messe ins ICC verlagern. Die Berliner AMK ist erfahren, internationale Fachmessen auszurichten, das Terrain ist viel leichter als die alte Kongreßhalle per Bus, U-Bahn und Shuttle zu erreichen, und mit gesellschaftlichen Ereignissen, vielleicht sogar dem Eröffnungsabend in den riesigen Sälen des ICC wäre die neue Lokalität spielend in das Festivalgeschehen einzubinden.
Denn das „Gulag“ im Tiergarten ist eine Zumutung. Die Strafversetzung der Journalisten, die der Festivalleiter nicht mag, aus der quirligen Attraktivität am Europacenter in diese unwirtliche Isolierstation, haben große Teile der seriösen Filmkritik längst mit konsequentem Fernbleiben quittiert; in Berlin tummelt sich inzwischen die zweite Wahl. Immer war die Anziehungskraft der Berlinale die unvergleichliche, von allen Cityfestivals außer New York beneidete dichte Infrastruktur der Innenstadt, die Ballung von Kinos, Hotels, Restaurants, Bars, Diskos, Kaufhäusern, Buchhandlungen, vielfältigen kulturellen und urbanen Offerten.
Die internationale Presse nahm hier stets die Berlinale und Berlin wahr, die Festivalberichte waren sehr oft zugleich Berlinreportagen. Doch die lauten Proteste über die miserablen Arbeitsbedingungen bis hin zum internationalen Filmkritikerverband blieben ungehört. Auch der Kultursenat, der eben noch vollmundig die Klagen der seit 1991 abgeschobenen Journalisten beschwor und nun den Affront auf Jahre perpetuieren will, hat wenig begriffen von diesem Festival und der Motivation seiner Besucher. Man macht nicht ungestraft über Jahre ein Filmfestival gegen die Filmkritik.
Unberechtigt erscheint dagegen die Polemik gegen die klammheimliche Vertragsverlängerung de Hadelns. Die Methode war nicht gerade fein und demokratisch, aber erstens sind keine Alternativen bekannt, zweitens ist de Hadeln bewährt als sturer Diplomat im Umgang mit Behörden und Filmindustrie. Nur ist er sichtlich überfordert. Man muß in Berlin endlich die Führungsstruktur anderer, auch kleinerer Festivals übernehmen, eine Arbeitsteilung zwischen organisatorischer Gesamtleitung und künstlerischer Verantwortung; andere nennen das Präsident und Direktor.
Nur ein ausgewiesener Cineast, dem Leiter des Forums gleichgestellt, kann den maroden Berliner Wettbewerb wieder auf ein akzeptables Niveau bringen, das den Vergleich mit Cannes und Venedig nicht scheuen muß und die wichtigen Kritiker nach Berlin zurückholt. Nur ein Leiter, der nicht nebenbei die Filmauswahl betreibt, kann endlich die diversen Programmschienen sinnvoll koordinieren, kann den Jurys wieder Glanz verleihen, das film- und pressefeindliche Klima der Berlinale aufbessern, den weiteren Messeausbau ankurbeln, die dubiose Einladungspraxis revidieren, die vielen Pannen der letzten Jahre verhindern. Allein 1992 wurden kurz vor oder während des Festivals Wettbewerbsfilme zurückgezogen, nachgeschoben, zur Sondervorführung umrangiert; von vielen Filmen waren keine Beteiligten, nicht mal die Regisseure in Berlin.
Der Anspruch des Cannes-Managements auf den Venedig- oder Berlin-Termin zeigt das Grummeln hinter den Kulissen der drei großen europäischen Filmfestivals. Bisher war das Image klar verteilt. Cannes das große Medienspektakel vor südlicher Touristenkulisse, das alltägliche bombastische Ritual auf der Treppe, Stars und Glamour, Prominente und Prestige- Projekte, ein von den Hollywoodfirmen angeführter gigantischer PR-Rummel. Venedig der exklusive Konvent der Cineasten in feudalem Rahmen, Autorenregisseure, Avantgarde, Filmkunst, keine Messe und keine Filmindustrie, das Kino als Kulturereignis. Berlin die Drehscheibe Ost-West und Nord-Süd, ein kulturell-urbanes Ambiente statt südlicher Strände, ein engagiertes junges Publikum, das neben ästhetischen auch politische Kriterien einbrachte.
Auch Cannes und Venedig präsentierten große Hollywoodproduktionen, zogen aber US-Independents vor; Cannes setzte in den 80ern Namen wie Jim Jarmush, Spike Lee, David Lynch, Stephen Soderbergh durch. Berlin, das „Cape Canaveral der US-Major- Companies“ (FR), buchte dagegen mainstream, dümmlichen Kommerz, als habe Hollywood nicht viel mehr zu bieten. Auch die aktuelle US-Auswahl ist nicht gerade von Mut und Entdeckerlust geprägt.
Cannes im Mai sitzt zu dicht vor dem Sommerloch, verliert bestimmte Titel an Berlin mit seinem günstigeren Termin. Die Entwicklung zum rüden Showbusiness, zum oberflächlichen Zirkus der Reporter, Fotografen und TV- Teams an der Croisette wird bald, so fürchten Beobachter, auch die Programmauswahl in Cannes beeinflussen. Venedig dagegen hat sein heimisches Publikum verloren, leidet unter dem ständigen Wechsel seiner Direktoren, droht im italienischen Parteiengezänk zu verschleissen. Und die Berlinale dümpert bestenfalls in seelenloser Routine dahin, huldigt beim Programm wie bei ihrer Klientel dem Prinzip Masse statt Klasse und neutralisiert den kritischen Diskurs, indem sie, bis aufs Forum, eine mediokre Konsumhaltung bedient – große Teile der jungen Kritik finden das offensichtlich prima.
Aber wie gesagt, Optimismus ist gefragt. Hoffentlich markiert Berlin '93 einen Übergang. Und hoffentlich gehen im Fastfoodbetrieb des Festivals nicht vier wichtige akute Themen der deutschen Filmszene unter.
1. Nach einem Jahrzehnt Abstinenz läßt sich der junge deutsche Film wieder auf die deutsche Realität ein, auf politische und soziale Recherchen, die in Dokumentar-, Spiel- und Genreformen übersetzt werden. Auch das leidige Thema der realen und der Mediengewalt gehört dazu. Das ist noch kein künstlerisches Kriterium, aber eine Bereicherung. Einschlägige Titel reichen von „Stau“, „Schattenboxer“, „Langer Gang“ oder „Terror 2000“ über „Nordkurve“ oder „Prinz in Hölland“ bis zu „Frankie, Jonnie und die anderen“, von Heimat Ost („Drehbuch: Die Zeiten“) bis zu Heimat West („Die zweite Heimat“).
2. Das filmische Experiment, der individuell improvisierte Umgang mit dem Material, neue Erzähl- und Visualisierungstechniken kehren ins Festival zurück, vor allem natürlich im Forum, das den internationalen Vergleich bietet, und in der Deutschen Reihe (z.B. „Der olympiscne Sommer“, „Navy Cut“). Den oberflächlichen Bilderfluten in über 30 Fernsehkanälen setzt eine neue Avantgarde ihr intensives, innovatives ästhetisches Bewußtsein entgegen.
3. Die fetten Jahre breit gestreuter deutscher Filmförderung sind vorbei. Den Regisseuren bläst ein neuer, kalter Wind entgegen aus den Fernsehanstalten, wo Spielfilme, selbst Spitzentitel in der Zuschauergunst dramatisch eingebrochen sind, und aus den Fördertöpfen, die nicht länger rund 150 deutsche Produktionen bei nur ca. 60 bis 70 Filmpremieren jährlich verantworten wollen. Die Frage der Entscheidungsstrukturen und -kriterien wird damit zum existentiellen Problem.
4. Seit die Deutschen in vorauseilendem Euro-Gehorsam in ihrem neuen Filmförderungsgesetz den deutschen zugunsten des EG- Films negierten, muß die Szene endlich mal über den Tellerrand blicken und die Phänomene Europa, Binnenmarkt, EG-Filminitiativen und europäiscne Kofinanzierung wahrnehmen. Eine Messe mit dem Label „Europäischer Filmmarkt“ und 14 europäische Produktionen im Wettbewerb könnten diese vernachlässigste Diskussion beflügeln.
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