Motzki ließ grüßen-betr.: "Das Grundgesetz in der Handtasche", taz vom 1.2.93

Betr.: „Das Grundgesetz in der Handtasche“, taz vom 1.2.93

[...] Da wird fast nebenbei und im leicht anerkennendem Unterton über Frau Leutheusser-Schnarrenberger behauptet, sie wäre „in der deutschen Geschichte die erste Ministerin in einem klassischen Ressort“. Dies trifft möglicherweise für die westdeutsche Geschichte zu – die erste Justizministerin in Deutschland ist sie nicht. Vor ihr war schon Hilde Benjamin in der DDR (zur Erinnerung: Abkürzung für den zweiten deutschen Staat von 1949 bis 1990) von 1953 bis 1967 Ministerin für Justiz. Der „Roten Hilde“ gelang es zwar, dieses Amt für DDR-Verhältnisse mit bemerkenswertem persönlichem Profil auszufüllen. Zu den beliebtesten PolitikerInnen der DDR gehörte sie jedoch aus gutem Grunde nie. Dies aber wäre schon ein Thema für sich.

Mir geht es hier um mehr als die Kritik schlechter Recherche. Denn diese Ausblendung eines Viertels der Bundesrepublik hat Methode – leider auch in der taz. Noch immer ist die DDR für die meisten Wessis eine Terra incognita mit einigen Mauertoten, viel Stasi und noch mehr IMs. Mehr nicht. Allerhöchstens ringt man sich ein mitleidiges Lächeln für die „Zurückgebliebenen“ ab. Deutsche Geschichte allerdings fand dort in jedem Falle nicht statt.

Für einen Linken ist es schon etwas merkwürdig, seine Zugehörigkeit zu Deutschland reklamieren zu müssen. Doch für einen Ossi ist das gegen die herrschende Praxis der Ausgrenzung und Ignoranz gleichwohl immer wieder dringend nötig. Denn wenn wir uns in unsere Seelen schauen, steht da immer wieder DDR, ganz egal ob sie uns nun gefiel oder nicht. Es mag einigen gelingen, das alles zu verdrängen – den meisten nicht. Mich zumindest haben zweieinhalb Jahre des ständigen Behauptenmüssens dieser Identität im Westen darüber eher verzweifeln lassen.

Die DDR war eben kein Panoptikum der Wunderlichkeiten, sondern für die dort Lebenden 40 Jahre Tag für Tag schmerz- und lustvoll erfahrene Wirklichkeit. Und zu dieser zählte selbst die unselige erste deutsche Justizministerin Hilde Benjamin. Nichtsdestotrotz gehört sie wie wir zur deutschen Geschichte. Wie lange brauchen die Westdeutschen eigentlich noch, um zu begreifen, daß sie nicht die Normalität und die Ostdeutschen die Abweichung sind. Wir waren nicht 40 Jahre auf dem Mond. Henrik Solf, Göttingen