: „Sechzehn verlorene Jahre“
■ Luciano Violante ist Vorsitzender der italienischen Anti-Mafia-Kommission
taz: Luciano Violante, noch bis vor kurzer Zeit haben sich Italiens Anti-Mafia-Kämpfer, zumindest die politischen, nur selten im Ausland sehen lassen; neuerdings sind sie in ganz Europa und auch in den USA sehr gefragt, im Fernsehen wie in Regierungsstellen. Hat die Festnahme des mutmaßlichen Superbosses Salvatore Riina der Mafia einen derart entscheidenden Schlag zugefügt?
Luciano Violante: Entscheidend sicher nicht, aber schwer war der Schlag wohl schon, national wie international. Doch das wichtigste ist tatsächlich, daß diese Festnahme und einige andere Aktionen uns selbst wieder Glaubwürdigkeit verschafft haben, speziell nach den grauenhaften Morden an den Untersuchungsrichtern Falcone und Borsellino Mitte 1992.
Es gibt in der Presse Stimmen, die behaupten, Riina sei sowieso bereits schwer im Abstieg gewesen und seine Festnahme allenfalls ein Kuhhandel zwischen Polizei und Riina selbst, oder die Verhaftung sei auf Hinweise seiner internen Feinde erfolgt.
Das ist eine Erscheinung, die wir seit langem kennen: Jahrelang heißt es, warum wird der Mann nicht aufgestöbert und verhaftet, und wird er dann festgenommen, beginnt eine Phase der Banalisierung. Plötzlich erklärt die Presse und auch ein Teil der Politiker, alles sei ja im Grunde gar nichts wert, es käme zu spät, der Mann sei sowieso keine Bedrohung mehr gewesen. Zur Frage Riina: Der Mann hatte sicher innerhalb der Organisation in der letzten Zeit Widerstand erfahren, vor allem, weil seine letzten Aktionen endlich doch zu einem entschlosseneren Widerstand des Staates geführt haben. Doch von einem Abstieg oder gar einer vorangehenden Entmachtung zu sprechen ist falsch.
Sie gehören zu den Politikern, die seit Jahren fordern, auch die Verbindungen der organisierten Kriminalität zur politischen Welt zu verfolgen. In den nächsten Tagen werden Sie einen Kommissionsbericht über die politische Seite der Sache vorlegen. Danach sollen hohe und höchste Politiker vor Ihre Kommission geladen werden, allen voran der siebenmalige Ministerpräsident Giulio Andreotti von der christdemokratischen Partei. Warum gerade er?
Weil sein Name in der Anklageschrift zum Mord am Europaabgeordneten Salvo Lima auftaucht. Aus der Anklagebegründung geht hervor, daß Lima ständige Beziehungen zu „Uomini d'onore“, wie die rituell aufgenommenen Mafiosi heißen, unterhalten hat. Und Salvo Lima war der Vertrauensmann Andreottis innerhalb der sizilianischen Democrazia Cristiana, sozusagen sein dortiger Statthalter.
Einige Politiker, die auch die Ordnungskräfte für höchst gefährdet ansehen, wie etwa der ehemalige antimafiose Bürgermeister Leoluca Orlando, fühlen sich eher durch gewisse Mitglieder des römischen Machtkartells bedroht denn durch Salvatore Riina.
Da muß er selbst erklären, wen er genau meint. Ich selbst bin der Ansicht, daß man den Kampf gegen die Mafia vor allem dadurch führen sollte, daß man die Mafia selbst angreift. Die Verbindungen zwischen Mafia und Politikern kann man nur aufklären, wenn man bei der Mafia anfängt, nicht vom politischen System her.
Sie gehen aber auch davon aus, daß es diese Verbindungen gibt?
Das steht bereits im Abschlußbericht der Anti-Mafia-Kommission von 1976. Da heißt es wörtlich, daß die Beziehungen zur politischen Macht für die Mafia grundlegend sind. Das Unheil besteht darin, daß daraus keinerlei Konsequenzen gezogen wurden, sechzehn verlorene Jahre also. Da spielten auch der Kalte Krieg und die Frontstellung Italiens im Mittelmeer mit hinein: In Sizilien sollte Ruhe herrschen, die Beibehaltung einer unterschwelligen, bestimmten Politikern verbundenen Schattenmacht förderte den Charakter eines stets nutzbaren Forts. Heute ist das politische Alibi der Mafia nicht mehr vorhanden: Die Bipolarität UdSSR–USA ist verschwunden, die Kommunistische Partei in Italien aufgelöst und in eine neue, der modernen Demokratie angemessene Organisation übergeleitet, da ist das politische Alibi der Mafia nicht mehr vorhanden. Interview: Werner Raith
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