: Erinnerung als Rettung
Erst nach 47 Jahren wird das Buch eines der wenigen Überlebenden des Vernichtungslagers Treblinka ins Deutsche übersetzt/ Ein Kind überlebt Auschwitz – Ruth Klügers Zorn ■ Von Barbara Distel
Richard Glazar stammt aus einer böhmisch-jüdischen Familie und ist heute 72 Jahre alt. Als 22jähriger verbrachte er zehn Monate seines Lebens in Treblinka. Dort, in der Nähe eines kleinen Ortes im Nordosten Polens, hatten die Deutschen ein Vernichtungslager errichtet, in dem zwischen Juli 1942 und August 1943 etwa 900.000 Juden mit dem Abgas von Motoren ermordet wurden. Richard Glazar war aus dem Transport von etwa 1.000 tschechischen Juden, mit dem er aus Theresienstadt nach Treblinka deportiert worden war, als einer von wenigen Arbeitssklaven ausgesondert worden. Er hat als einer von schätzungsweise 56 Häftlingen den Aufstand der 1.000 Gefangenen überlebt. Zusammen mit einem Freund gelang ihm die Flucht und schließlich das Untertauchen mit falschen Papieren in einem Rüstungsbetrieb in Mannheim bis zum Ende des Krieges.
Unmittelbar nach der Befreiung, noch vor seiner Rückkehr nach Prag, schrieb Richard Glazar seine Geschichte nieder. Er fand keinen tschechischen Verleger und auch nach seiner erneuten Flucht nach dem Prager Frühling von 1968 in die Schweiz keinen deutschsprachigen Interessenten für seine Veröffentlichung. Erst jetzt, 47 Jahre nach seiner Entstehung, liegt dieses außerordentliche Zeugnis gedruckt vor und erfüllte sich Richard Glazars dringender Wunsch, „die Welt wissen (zu) lassen“. Die Geschichte, die der junge Überlebende niedergeschrieben hat, ist eigentlich nicht faßbar, und man zögert festzustellen, sie sei spannend und bewegend geschrieben. Denn Richard Glazar gelingt es, dem Leser sein ungewöhnliches Schicksal ohne Pathos und Heroisierung, aber in großer Eindringlichkeit und Bildhaftigkeit nahezubringen.
Er beschönigt nichts, schildert detailliert die Rolle der sogenannten „Arbeitsjuden“, deren Ermordung nur aufgeschoben wurde, damit sie zum reibungslosen Ablauf der Mordmaschine beitrugen. Wie die meisten Opfer vor und nach ihm war er völlig ahnungslos nach Treblinka gekommen, es überstieg auch sein Vorstellungsvermögen, daß die tausend Menschen, die mit ihm gekommen waren, kurze Zeit nach ihrer Ankunft bereits alle ermordet worden sein sollten. „... niemand kann sich sein eigenes Ende vorstellen – ein solches nacktes Ende.“ Der Vorarbeiter, dem er zugeordnet wird, sagt ihm: „Nach zwei, drei Tagen, wenn du noch am Leben sein wirst und bis zu dir kommst, wirst du wissen, daß es in Treblinka alles gibt, alles – nur kein Leben.“
Richard Glazar verschweigt nichts von diesem zufällig und kurzfristig verlängerten Leben, ständig den Tod der anderen vor Augen, ständig in Erwartung des eigenen Endes. Nicht die Brutalität der Bewacher und deren grenzenlose Gier nach dem Reichtum, der mit den Opfern nach Treblinka kam. Nicht den Überlebenswillen der Häftlinge, die auch dank des Gepäcks der Toten immer gut gekleidet und fast nie hungrig waren. Nicht ihre Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und die erzwungenen Handlangerdienste für die Henker. „Es geschah gelegentlich, daß jemand aus einem Transport fragte: ,Wo sind wir, was wird mit uns geschehen?‘ und jemand von uns zischte: ,Dem Tod entgegen geht ihr – wehrt euch! – Los wir alle! ... ,Dann schauten sie ihn mißtrauisch und befremdet an wie einen Narren, falls sie überhaupt inmitten des Tumults, in der Sorge um ihre Kinder, Frauen, Mütter, Koffer und Ranzen imstande waren zu schauen.“
Glazar kreuzt den Weg Zahl- und Namenloser unmittelbar vor ihrem grausamen Erstickungstod: den der armen, ausgehungerten Juden aus den Gettos in der Sowjetunion, der wohlhabenden aus den westlichen Ländern, der körperlich kräftigen aus Südosteuropa: „So etwas habe ich unter der zerknitterten Bekleidung nicht erwartet. Braune muskulöse Körper zittern leicht in der Kühle des wolkig trüben Tages. Dichtes Haar, breite Schultern, wohlgeformte Gestalten. Ein junger stattlicher Mann mit bräunlicher Haut läuft vorbei, die Mähne der schwarzen Haare flattert, das Gesichtsprofil ist wie geschnitzt. Zwei Jünglinge nähern sich, mehr als achtzehn Jahre werden sie nicht haben. Hinter ihnen ein Mann mit angegrautem Vollbart, eine stolze Erscheinung mit gewölbter Brust, die Schenkelmuskeln spannen sich unter der Haut. Diese drei hab ich schon irgendwo gesehen – diese drei, der alte, das sind Laokoon und seine Söhne – aus dem sagenhaften Troja, erobert durch die Griechen – aus den Schulbüchern und von den Bildern in den Schulgängen kenn ich sie. Und weitere folgen.“
Allmählich konkretisieren sich die Pläne für den Aufstand der Gefangenen, immer wieder durchkreuzt von unvorhergesehenen Hindernissen, etwa einer Fleckfieberepidemie. Als die letzten Überlebenden des Warschauer Gettoaufstandes nach Treblinka kommen, „ging nichts von Hand zu Hand, keine Portion Brot, keine Hose, kein Stück Seife. Aber von Mund zu Mund von Gedanken zu Gedanken verbreitet sich das Vermächtnis: Ihr Frommen aus Überzeugung wie aus Gewohnheit, ihr Talmudisten wie auch ihr Ungläubigen, Geschäftsleute und Gewerbeleute, Handwerker und Krämer, Mittler, Schieber, Ganoven und Diebe – ihr alle, werft den letzten Trödel des Lebens weg, gebt die Hoffnung auf, daß vielleicht ihr die Letzten sein werdet, die dem nackten Tod entkommen...“
Am 2. August 1943, dem Tag der Revolte, greifen die Häftlinge mit wenigen, zuvor erbeuteten Waffen die Bewacher an und setzen das Lager in Brand. Richard Glazar gelingt es, zusammen mit seinem Freund in der ersten Verwirrung durch das aufgebrochene Tor zu entkommen, sie verbringen viele Stunden im Wasser eines nahe gelegenen Sees, um die Verfolger abzuschütteln. „Als wir in völliger Dunkelheit zum anderen Ufer schwimmen und herauswaten, beginnt sich hinter uns der Himmel etwas aufzuhellen, und als wir das Ufer hinaufkriechen und uns umdrehen, sehen wir einen riesigen Feuerschein über Treblinka – größer und anders gefärbt als in all den Nächten zuvor, als er von dem großen Verbrennungsrost gespeist wurde.“
Richard Glazars Verfolgungsgeschichte war allerdings noch nicht beendet, auch nicht nach der Rückkehr in seine tschechische Heimat. Inzwischen lebt er seit einem Vierteljahrhundert in der Schweiz. Im Gegensatz zu den in Deutschland lebenden Zeugen ist er nicht oft nach seiner Geschichte befragt worden. Wenn er sie jedoch erzählt, dann wird jedem Zuhörer schlagartig deutlich, wie die entsetzliche zehnmonatige Zeugenschaft der Verbrechen in Treblinka dieses Leben bis heute bestimmt. Mit seinem Buch möchte er dieses Zeugnis weitergeben.
Eine Kindheit im KZ
Ruth Klügers Kindheits- und Jugenderinnerungen „weiter leben“, die aus der Distanz eines halben Jahrhunderts geschrieben wurden, sind ein verstörendes Buch. Es enthält Sätze und Bilder, die sich festhaken und einen nicht mehr loslassen. Begriffe drängen sich auf wie: radikale Abrechnung, aufrichtig, schonungslos. Gleichzeitig aber überwiegt die Trauer über diese zerstörte Kindheit, die im „bis ins Mark hinein judenkinderfeindlichen“ Wien begonnen hatte, sechs Jahre bevor Hitler in Österreich einmarschierte. Wer Ruth Klüger, die heute in Kalifornien lebt und internationale Anerkennung als Literaturwissenschaftlerin genießt, bei einer ihrer Lesungen nach Erscheinen des Buches in Deutschland erlebt hat, wird die Melodie ihres Wiener Dialekts im Ohr behalten haben. Die Erinnerungen, die sie in den Jahren 1989–91 nach einem schweren Autounfall, durch den sie mit den traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit noch einmal konfrontiert wurde, niedergeschrieben hat, sind chronologisch in vier Teile gegliedert. Nach ihren ersten Lebensjahren in Wien, „die Stadt, von der aus ich in den Tod fahren sollte und nicht in den Tod gefahren bin“, nehmen die Kapitel über ihre Haft in den Lagern Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt den breitesten Raum ein. Es folgt die Zeit nach ihrer gelungenen Flucht Richtung Bayern und schließlich die ersten Jahre nach ihrer Auswanderung in die USA. Die Sprachwissenschaftlerin, die in ihrer Kindheit Deutsch gesprochen hat, später nur noch Englisch, auch mit ihren Söhnen, hat sich über das Germanistikstudium wieder auf diese Sprache eingelassen. Das Buch hat sie in deutscher Sprache geschrieben, es richtet sich an das deutsche Publikum und ist Göttinger Freunden, die ihr bei ihrem Unfall beistanden, gewidmet. Sie handhabt ihr Handwerkszeug meisterhaft, man könnte das Buch wohl auch ausschließlich unter sprachästhetischen Gesichtspunkten lesen.
Der Bericht aus der Sicht des Kindes schildert die Verletzungen, die Ängste und die lebensbestimmende Erfahrung, daß Erwachsene die Gefahren herunterspielen oder falsch einschätzen und keinen Schutz bieten können, sondern selbst der Verfolgung hilflos ausgeliefert sind. „Wenn man lang genug wartet, dann kommt der Tod. Man muß fliehen lernen“ – Fazit einer Kindheit.
Gelegentlich überlagern Erlebnisse und Einsichten der Erwachsenen die Schilderungen, man erfährt Einzelheiten über ihren Kampf um das „weiter leben“, die quälende Beschäftigung mit dem unvorstellbaren Tod des Vaters in der Gaskammer von Auschwitz, die lebenslange, konfliktreiche Beziehung zur Mutter, mit deren Hilfe sie überlebte. Und es gibt eine wunderbare Hommage an die Freundschaft unter Frauen.
Die Deutschen werden ausführlich mit ihrer sogenannten Vergangenheitsbewältigung konfrontiert, Ruth Krüger hat nichts Gutes darüber zu berichten. Bei ihren Aufenthalten in Deutschland scheint sie vorwiegend auf selbstgerechte, unsensible Zeitgenossen gestoßen zu sein, die die Verbrechen verharmlosen, nichts davon hören wollen oder jugendlich-bornierte Selbstgerechtigkeit verbreiten. KZ-Gedenkstätten, die „das Gegenteil ihrer vordergründigen und angeblichen Aufgabe erreichen“, lehnt sie mit harschen Worten ab, allenfalls Peter Weiss ist als Besucher in Auschwitz noch akzeptabel. Gleichzeitig wünscht sie sich jedoch bei ihren deutschen Gesprächspartnern Kenntnisse und differenzierte Betrachtung des KZ-Systems und der Funktionen der verschiedenen Lager.
Verletzend und sehr ungerecht ist ihre pauschale Verurteilung der politischen Gegner der Nazis, die die Konzentrationslager überlebt haben. Sie seien allesamt Antisemiten, deren „Hochmut eigentlich ein Fanatismus“ sei. Mit dem Hinweis auf die Rettung eines jüdischen Kindes durch politische Häftlinge in Buchenwald sieht sie jedoch die jüdische Katastrophe im 20. Jahrhundert „infantilisiert, verkleinert und verkitscht“.
Ruth Klügers Zorn über die Sinnlosigkeit des verbrecherischen KZ-Systems hat sie vielleicht vor der Verzweiflung bewahrt. Ihr Versuch, mit diesem Buch alles noch einmal ins Auge zu fassen, den chronologischen Ablauf, die unersetzlichen Verluste und Beschädigungen, die hilflosen, unaufrichtigen oder abwehrenden Reaktionen der Umwelt danach, ist ein Angebot an uns.
Richard Glazar: „Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka“. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt 1992, 190 Seiten, 14,80 DM
Ruth Klüger: „weiter leben. Eine Jugend“. Wallstein Verlag, Göttingen 1992, 285 Seiten
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen