: „Ich bin ja heut' so glücklich“
Eine Ausstellung über das südfranzösische Internierungslager Gurs ■ Von Gabriele Mittag
„Wenn Sie Gewichtsprobleme haben, kommen Sie nach Gurs! Der Ort ist bekannt für seine gute Küche.“ Diese Einladung kann man im „Kleinen Stadtführer Gurs“ nachlesen, der Autor des mit Zeichnungen versehenen Heftes ist Horst Rosenthal. Er war nicht der einzige, der der Lagerrealität Gurs' mit einer Art Galgenhumor begegnete. „Befreiung von Gurs“ heißt eine andere Zeichnung: Zwei Männer tragen einen Toten aus dem Lager. Diese beiden „Lagerwerke“ gehören zur Sammlung Kasser, die seit dem 7.Februar in der Akademie-Galerie im Marstall unter dem Titel „Gurs – ein Internierungslager in Frankreich, 1939 bis 1943“ zu sehen ist. Die Sammlung umfaßt eine große Anzahl von Zeichnungen, Aquarellen, Fotografien und Texten, die bis 1990 verborgen blieben. Niemand wußte davon, nur Elsbeth Kasser. Für sie stand immer fest: Diese Bilder müssen sprechen. „,Schweizer Schwester, sagen Sie es in der ganzen Welt, was hier geschieht.‘ Diese Stimmen in den Nächten der Deportationen, die haben mich all die Jahre verfolgt.“ Nach einer Begegnung mit dänischen Museumsleuten entschloß sie sich, das Verborgene auszustellen. Daß die Ausstellung in den letzten zwei Jahren zunächst durch badische und pfälzische Städte sowie durch die Schweiz wanderte, ist kein Zufall. Denn direkte Verbindungslinien von dem Pyrenäenörtchen Gurs führen nicht nur nach Berlin.
Der Anfang vom Ende
November 1940: Die LeserInnen der deutsch-jüdischen New Yorker Wochenzeitung Aufbau erreicht folgende Meldung: Am 22.Oktober seien 6.500 Juden aus der Pfalz und Baden in das französische Internierungslager Gurs verschleppt worden. Da es kaum Gewißheit über die näheren Gründe dieses Vorgangs gibt, bleibt der Raum frei für Spekulationen. Die Abschiebung der Juden sei bereits im Versailler Vertrag festgehalten worden, lautet eine Meldung des Londoner Exchange Telegraph. Andere vermuten, die deutschen Faschisten wollten die USA unter Druck setzen, um die „Erteilung von Visen für die deutschen Juden zu beschleunigen“.
Innerhalb weniger Stunden wurden am 22.Oktober 1940 Baden-Württemberg und die Pfalz „judenfrei“ gemacht, auf Befehl Adolf Hitlers und mit Hilfe des „besonderen Einsatzes“ der beiden Gauleiter Josef Bürkel und Robert Wagner. Die jüdische Auswanderungsorganisation HICEM bemühte sich zwar um in Gurs internierte Juden, aber vieles scheiterte an der Einwanderungspolitik der USA, von der Ausreisepolitik der Vichy-Regierung ganz zu schweigen.
Nachdem die ersten Schreckensnachrichten in den USA und in der Schweiz bekannt geworden waren, setzte die Arbeit von Gurs- Komitees und Hilfsorganisationen ein. Vom November 1940 bis zum Beginn der Deportationen aus Vichy-Frankreich in die Vernichtungslager bemühte sich der Aufbau, den Gurs-Internierten zu helfen. Doch Benefizkonzerte und Spendenaktionen konnten nicht verhindern, daß viele der Deportierten, darunter sehr viele Alte, Kranke und Kinder, in den ersten Monaten an Hunger, Krankheit und Kälte starben. Wer den ersten Schock überlebte und dem Lager später nicht entkommen konnte, wurde ab August 1942 über Drancy bei Paris nach Auschwitz deportiert. Für 4.000 Internierte war Gurs der Anfang vom Ende.
Der Madagaskar-Plan
Im November 1940 wußten weder die jüdischen Emigranten in New York noch die nach Gurs Deportierten Näheres über das, was als „Madagaskar-Plan“ bezeichnet wurde. In einem Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Heydrich, vom 29.Oktober 1940 an das Auswärtige Amt in Berlin heißt es: „Der Führer ordnet die Abschiebung der Juden aus Baden über das Elsaß und der Juden aus der Pfalz über Lothringen an.“ Claude Laharie, französischer Historiker und Autor der bisher detailliertesten Arbeit über Gurs: „Im Sommer 1940 führte die Sicherheitspolizei unter Heydrich ein riesiges Vorhaben durch: Sie profitierte von der französischen Niederlage, um eine weit entfernt gelegene französische Kolonie, die Insel Madagaskar, in eine Art gigantisches Judenghetto zu verwandeln.“ Da die Vichy-Regierung unmittelbar nach dem Waffenstillstand am 3.Oktober antisemitische Gesetze erließ, gingen Eichmann und Heydrich davon aus, daß der Madagaskar-Plan bei der Vichy- Regierung nicht auf großen Widerstand stoßen würde. Aber sie hatten sich getäuscht. Als die Züge aus Baden und der Pfalz in Frankreich eintrafen, protestierte die nicht unterrichtete Vichy-Regierung. So kamen die Deportierten nach Gurs, in das größte camp d'internement, in der „unbesetzten Zone“, das Lager für die indésirables, die Unerwünschten. Das Kriterium für „unerwünscht“ änderte sich ständig: Am Anfang, im April 1939, waren es Spanienflüchtlinge und Kämpfer der Internationalen Brigaden (darunter Walter Janka und der Komponist Eberhard Schmidt), ab Kriegsausbruch waren es die „feindlichen Ausländer“ (unter anderen die deutschen Emigranten) und nach dem Waffenstillstand alle ausländischen Juden – aber auch andere Personengruppen, die selten genannt werden: Kommunisten, ethnische Minderheiten und der Prostitution verdächtige Frauen.
Am Ende des drôle de guerre hatte die Internierungswelle auch die zuvor nach Frankreich emigrierten Frauen erfaßt. Else Schönberg, Volkswirtin und Juristin aus München, seit 1933 im französischen Exil, erinnert sich an die Ankunft der badischen Juden: „Ich befand mich gerade in der Krankenbaracke, da wurde eine Frau hereingetragen, und ich fragte, woher sie käme. Aus Mannheim, sagte sie. Wir glaubten, sie sei verrückt.“ Eine andere ehemalige Internierte, Anne-Lise Eisenstadt, gebürtige Magdeburgerin, die 1933 zunächst nach Spanien emigrierte und von 1936 an in Frankreich lebte, erinnert sich an das Mißtrauen der badischen Juden den Internierten gegenüber. „Sie glaubten anfangs, daß wir Verbrecher seien, denn Menschen, die man interniert, die müssen doch etwas verbrochen haben!“
Eine Schule im Lager
Gurs war kein Arbeitslager, es gab keine systematischen Mißhandlungen und nichts, was mit den Brutalitäten der SS vergleichbar wäre. Ehemalige Internierte betonen immer wieder, daß die Zustände im Vergleich zu Lagern in Osteuropa, Deutschland oder selbst in der Schweiz erträglich waren. Dennoch bedeutete das Leben in Gurs Hunger, Kälte und Verzweiflung. Ab November 1940 starben 20 Menschen täglich.
Zu diesem Zeitpunkt begab sich eine 29jährige Frau ins Lager. Freiwillig, ohne Geld, alleine. Als Mitarbeiterin der Schweizer Hilfsorganisation „Secours suisse“ quartierte sie sich in Gurs ein und kümmerte sich zunächst um die rund 1.000 Kinder und Säuglinge, die im Lager zur Welt gekommen waren. Elsbeth Kasser blieb drei Jahre in diesem Niemandsland.
Sie organisierte Milchpulver aus der Schweiz und erreichte beim Lagerkommandanten, daß eine Baracke der Lagerpolizei, die zuvor als Bordell gedient hatte, in eine provisorische Schule umgewandelt wurde. Elsbeth Kasser schuf für die Kinder in Gurs eine „eigene Welt“, ein Stück Normalität – ordentlich und wenn möglich gewaschen kamen die Kinder zur Schule, es wurde gesungen, geschrieben, gelernt. Unterrichtet wurde in verschiedenen Sprachen, KünstlerInnen gaben Kurse. An den Barackenwänden hingen Bilder von den Schweizer Bergen. Draußen wurden die Särge, falls vorhanden, zum „Friedhof“ gebracht – ein grausiges, völlig unter Wasser stehendes Gelände. Beerdigungen und Kulturveranstaltungen waren die einzigen Möglichkeiten für Männer und Frauen, sich zu begegnen.
Im Frühjahr 1941 verbesserten sich dank zahlreicher Hilfsorganisationen, darunter den amerikanischen Quäkern, dem YMCA und dem Kinderhilfswerk OSE die Zustände im Lager. Die assistance protestante beschaffte Partituren und Instrumente und erhielt sogar die Genehmigung, Filme im Lager zeigen zu dürfen. Jede kulturelle Veranstaltung mußte vom Lagerkommandanten genehmigt werden, der wiederum dem Präfekten in Pau Bericht erstatten mußte.
Gesänge hinter Stacheldraht
Sonntags gab es Konzerte. Elsbeth Kasser erinnert sich: „Die kulturellen Aktivitäten waren etwas Großartiges. Das war ein ganz wichtiger geistiger Widerstand, daß diese Künstler sich zusammengetan haben, mit einem Minimum an Mitteln. Am Sonntag kamen die Kinder nicht in die Baracke. Da habe ich mir erlaubt, eine Stunde ins Konzert zu gehen. Da spielte ein Geiger der Wiener Philharmoniker und Hans Ebbecke, der seiner jüdischen Frau zuliebe ins Lager gekommen war.“
In Gurs wurde gestorben, geboren, musiziert, gewartet. Gurs war eine stacheldrahtumzäunte Stadt mit protestantischen, katholischen und jüdischen Gottesdiensten und Bibliotheken. Überall im Lager gab es „Kulturbaracken“. Geprobt wurde bei eisiger Kälte, mit leerem Magen. Ernst Busch, der zwei Jahre in Gurs interniert war, ist mehrfach aufgetreten und soll sogar eine Wallenstein-Trilogie inszeniert haben. Revuen entstanden, deren Titel alle irgendwie an Schlager, an Ufa-Titel, an das politische Kabarett der zwanziger Jahre erinnerten.
„Folies-He-Bergères“ hieß eine fantasie en 25 tableaux, eine der mindestens zehn Revuen des Berliner Kabarettisten Alfred Nathan, der später seinen Namen in Peter Pan änderte und 1977 in der DDR starb. Er arbeitete die gesamten drei Jahre der Internierung mit dem Komponisten Kurt Leval zusammen, einem gebürtigen Hamburger. Vom Künstler-Duo Nathan-Leval stammte unter anderem „Schmocks höhnende Wochenschau“, eine „Film-Revue in 22 Bildern“ und auch „Ich bin ja heut' so glücklich“. 20 Jahre später wird Pan die Gurs-Texte unter dem Titel „Gesänge hinter Stacheldraht“ herausgeben.
Die Künstler waren protegierter
Im März 1941 fand im Lager die erste Ausstellung der in Gurs entstandenen Bilder, Skulpturen und Grafiken statt. Eine strenge Jury wachte über die Auswahl. Ziel dieser Ausstellung und der noch folgenden war durchaus, Bilder zu verkaufen, um so an Geld, Nahrungsmittel oder Visa zu kommen. Potentielle KäuferInnen waren das Lagerpersonal oder die Hilfsorganisationen. An Elsbeth Kasser, die häufig von internierten Künstlern porträtiert wurde, wollte man nicht verkaufen. „Vieles habe ich geschenkt bekommen. Ich habe dann versucht, die Bilder aus dem Lager zu schaffen. Ich glaube, das war das einzig Illegale, was ich je getan habe.“
In den Bleistift- und Kohlezeichnungen und den Aquarellen der Sammlung Kasser spiegeln sich auf hundertfache Weise die Erfahrungen in Gurs wider, auch wenn nur wenige nach Beginn der Deportationen ihre künstlerische Arbeit fortsetzten. Hans Reichel, stark beeinflußt von Paul Klee, entwarf seine prächtigen Aquarelle weiterhin so, als befände er sich nicht hinter Stacheldraht. Er war einer der wenigen, der auch im Lager weiter abstrakt malte.
Viele der bildenden KünstlerInnen wurden gerettet, konnten emigrieren oder sich verstecken. Wie zum Beispiel Max Lingner, der nach dem Krieg nach Deutschland – gesundheitlich stark gezeichnet – zurückkehrt und 1957 in der DDR stirbt. „Die Künstler waren protegierter, sie wurden eher gewarnt als andere“, so Elsbeth Kasser. Wer nicht berühmt war, kein Geld und nicht das Glück hatte, von Einzelpersonen oder Organisationen oder von der französischen Résistance herausgeschmuggelt zu werden, endete in Auschwitz. Die beliebte Sängerin Mary Fuchs, deren Stimme selbst mit den bewunderten Stimmen der Spanierinnen im Lager konkurrieren konnte, mußte mit dem ersten Deportationszug das Lager verlassen. Alle waren neidisch auf „Madame Fuchs“, denn man glaubte, sie führe ein besseres Leben. Als man nie wieder etwas von ihr hörte, war klar, daß etwas Schreckliches passiert sein mußte.
Vor zwei Jahren sagte Elsbeth Kasser: „Was mich überwältigt, ist die Tatsache, wieviele Deutsche sich heute ernsthaft bemühen, diese Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie überlegen sich, wie man sich gegen solche Mächte, auch heute noch aufkeimende Mächte, wehren kann. Das ist vielleicht das größte Geschenk, daß ich das noch erleben konnte.“
Die Ausstellung „Gurs – ein Internierungslager in Frankreich 1939 bis 1943“ ist vom 9.Februar bis zum 7.März in der Akademie-Galerie im Marstall, Marx-Engels- Platz 7 in Ostberlin zu sehen. Neben dem Ausstellungskatalog (Viborg 1990) ist ein Dokumentarband erschienen, den Michael Philipp von der Hamburger Arbeitsstelle für Exilforschung herausgegeben hat.
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