: Türkei: Generalangriff auf die Menschenrechte
■ Im ersten Amtsjahr brach die Regierung Demirel sämtliche Versprechungen
Berlin (taz) – Das Beste an Ministerpräsident Suleyman Demirel sind seine Versprechungen. Im November 1991, als er das Programm der neuen Koalitionsregierung vorstellte, lieferte er den TürkInnen eine lange Liste davon. Er wollte die Verfassung demokratisieren, die Justiz unabhängig machen und vor allem die Einhaltung der Menschenrechte sicherstellen. Geworden ist aus den großspurigen Ankündigungen nichts. Im Gegenteil. 1992, in ihrem ersten Amtsjahr, trat die Regierung Demirel die Menschenrechte mit Füßen, wie das lange nicht mehr in der Türkei geschehen war. Das geht aus dem detaillierten Jahresbericht der türkischen Menschenrechtsstiftung hervor, der gestern in Ankara vorgestellt wurde. Mit minutiös aufgelisteten Zahlen und Namen belegt er, daß die staatliche Brutalität insgesamt gestiegen ist: die Todesfälle und Folter in Polizeigewalt, die Verfolgungen und Morde von Journalisten und Oppositionellen und die Gewalttaten der Armee gegen kurdische ZivilistInnen.
„Grundrechte und -freiheiten, besonders das Recht auf Leben, wurden in einer Weise verletzt, die an die dunklen Tage des Putschistenregimes von 1980 erinnert“, heißt es in dem zweihundertseitigen zweiten Jahresbericht des Dokumentationszentrums der Menschenrechtsstiftung. Das Zentrum, das als eine der zuverlässigsten Quellen über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gilt, wertet täglich zehn Zeitungen und zahlreiche eigene Quellen aus.
Insgesamt kostete die Gewalt im vergangenen Jahr das Leben von 2.933 Menschen in der Türkei. Bei kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Guerilleros der PKK kamen 1.908 Menschen zu Tode – darunter 189 ZivilistInnen. 380 Menschen fielen „unprovozierter Gewalt“ der Sicherheitskräfte zum Opfer – 17 von ihnen starben unter Folter in Polizeihaft. 360 Menschen wurden von der Konter-Guerilla ermordet, der Protektion durch den Staat nachgesagt wird. 285 Menschen starben bei Attentaten gewalttätiger Organisationen wie PKK und Devrimci Sol.
Das Hauptziel staatlicher türkischer Gewalt blieb Kurdistan. Schüsse auf DemonstrantInnen kosteten dort 26 Menschen das Leben. Bei Hausdurchsuchungen wurden 63 Menschen ermordet. Straßensperren forderten 103 Todesopfer. Bei den kurdischen Newroz-Feiern im vergangenen März starben 92 Menschen.
Entgegen anderslautenden Versprechungen wird die Folter immer noch systematisch in der Polizeihaft eingesetzt. Ebenso systematisch werden alle Klagen dagegen ignoriert. Auch „Entführungen“ gehören weiter zum staatlichen Instrumentarium. So „verschwanden“ im vergangenen Jahr acht Personen nach ihrer Festnahme. Über ihr Schicksal hüllen sich die Behörden bis heute in Schweigen. Wer über die Repression berichtet, läuft Gefahr, ihr selbst zum Opfer gefallen. 13 Journalisten wurden im vergangenen Jahr in der Türkei ermordet – zwölf von ihnen in Kurdistan. Sie alle hatten zuvor über die Konter- Guerilla recherchiert. Keiner der Morde wurde aufgeklärt. 189mal wurden Zeitungen und Zeitschriften beschlagnahmt, und 20 Bücher wurden verboten. Türkische Gerichte wirkten aktiv an der Behinderung der Pressefreiheit mit: Im vergangenen Jahr verurteilten sie JournalistInnen zu insgesamt 23 Jahren, 8 Monaten und 15 Tagen Gefängnis.
Staatliche Repression bestimmt auch den Alltag an Universitäten und Betrieben: So wurden Gewerkschaften in ihrer Arbeit behindert (39mal), demokratische Organisationen verboten (32mal) und Studentinnen wegen des Tragens von Kopftüchern bestraft 63mal). Dorothea Hahn
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