: Sarajevo und der Wegzoll für die Hilfe
Die internationale Hilfe geht auch an die serbischen Tschetniks/ Vor allem private Organisationen werden geplündert/ Über vereiste Wege in die bosnische Hauptstadt ■ Aus Sarajevo Erich Rathfelder
Langsam quält sich die Fahrzeugkolonne den Berg hinauf. Seit in den bosnischen Bergen Schnee gefallen ist, sind die noch befahrbaren Straßen zu Eisbahnen geworden. Auch hier, am Anstieg zum Tunnel von Branina, drohen einige Fahrzeuge immer wieder von der Fahrbahn abzurutschen. Doch das läßt die Fahrer der rund 60 LKWs aus Straßburg nicht entmutigen. Sie wollen unbedingt erreichen: Sarajevo, die Hauptstadt Bosnien- Herzegowinas, die nur noch 30 Kilometer Luftlinie entfernt ist.
Der Konvoi aus Straßburg ist das Ergebnis der wohl größten aller spontan entstandenen privaten Initiativen für die Menschen in der geschundenen Stadt. Als Ives Dubois, Chefredakteur des Radiosenders France 3, Ende letzten Jahres zur Hilfsaktion aufrief, war das Ergebnis überwältigend. Allein im Elsaß meldeten sich Hunderte von Freiwilligen, umgerechnet über 16 Millionen Mark gingen ein, liebevoll gepackte Pakete wurden auf jene Lastwagen geladen, die Firmen und Privatleute zur Verfügung gestellt hatten. Hilfe von „Bürger zu Bürger“ wollten sie leisten, zeigen, daß den Elsässern das Schicksal der Menschen in Bosnien nicht gleichgültig ist.
Doch noch haben diejenigen, die es übernommen haben, das „Zeichen unseres guten Willens zur Beendigung des Krieges“ nach Sarajevo zu bringen, drei Tage Fahrt vor sich. Denn so lange dauert es, den Paß nach Kiseljak zu überwinden, bis die Kontrollen an den Demarkationslinien passiert sind und der Konvoi sich wieder sammeln kann. Denn die Lastwagen müssen auch serbisch kontrolliertes Gebiet passieren. „Doch wir kommen durch“, sagt Ives Dubois trotzig, „die Serben werden uns hoffentlich keine Schwierigkeiten machen.“ Unverständlich bleibe jedoch, daß die UNO sich nicht in der Lage sehe, zum Schutze des Konvois ein paar gepanzerte Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen. Der französische Kommandant der UNPROFOR in Sarajevo, General Morillon, hatte zuvor jegliche Verantwortung für den Konvoi abgelehnt.
Die Strecke nach Kiseljak ist halsbrecherisch. Der nur notdürftig verbreiterte Feldweg klettert steil zum Paß hoch. Ein Blick aus dem Autofenster genügt, um festzustellen, daß auf dieser vereisten Bahn schon mancher sein Leben riskieren mußte. Die Wracks im Abgrund sind Beleg dafür. An der Kontrollstelle auf der Paßhöhe lungern einige Soldaten der kroatischen HVO und lassen die Fahrer von Lastwagen, deren Nummernschilder ihre bosnische Herkunft verraten, einfach in der beißenden Kälte warten: „Die müssen jetzt einen kleinen Wegzoll entrichten“, flüstert ein Begleiter, ein Mitarbeiter des bosnischen Roten Kreuzes. Doch keiner der Fahrer will darüber reden.
Die 24.000 EinwohnerInnen des Städtchens Kiseljak reiben sich morgens wohl immer noch verwundert die Augen. Denn seit hier, knapp 16 Kilometer vor Sarajevo, ein Lager des UNHCR, der UNO- Hilfsorganisation für Flüchtlinge, errichtet wurde und die UNPROFOR ihr Hauptquartier hier aufschlug, ist der Ort nicht mehr wiederzuerkennen. UNO- Lastwagen und gepanzerte Fahrzeuge rattern durch die Straßen, denn alle Hilfstransporte für Sarajevo werden durch Kiseljak geleitet. Das Zentrum des Städtchens und seine Cafeś werden von Ausländern dominiert. „Es gibt viel Korruption in diesem Krieg“, meint William T., ein kanadischer UNHCR-Mitarbeiter, der ein Bier nach dem anderen trinkt. Er ist da abgebrüht, war er doch schon in Kambodscha und kurz auch in Somalia eingesetzt. Eigentlich dürfe er ja gar nicht darüber reden. Doch selbst die UNHCR müsse Wegzölle entrichten. „Nicht auf der kroatisch-bosnischen Seite, wohl aber bei den Serben.“ Wie das im einzelnen geschieht, will er nicht verraten. „Nur so viel: Auch die serbische Bevölkerung wird mit Hilfsgütern versorgt. Die Quantität hängt von den Verhandlungen ab und vom Umfang der Hilfe, die nach Sarajevo geht. Die privaten Hilfsorganisationen werden jedoch ziemlich geschröpft.“
Gerade startet ein Konvoi der französischen Hilfsorganisation Equi Libre mit Ziel Sarajevo. Die kroatisch-bosnischen Checkpoints, die nach vier Kilometern auftauchen, werden ohne große Schwierigkeiten überwunden. Und auch als die jugoslawische Flagge zu sehen ist, werden die französischen Lastwagen von den blau uniformierten Serben zügig abgefertigt. Mitfahrende Journalisten jedoch müssen viele Fragen über sich ergehen lassen. Sorgfältig wird das Wageninnere durchsucht. Und die „scherzhafte“ Bemerkung eines der Soldaten: „Ich habe noch nie einen Deutschen erschossen“, läßt nicht gerade freundschaftliche Gefühle sprießen.
Die Straße führt hinab nach Ilidza, einem modernen Vorort Sarajevos. In den vorgelagerten Dörfern sind die Häuser unbeschädigt, Kinder spielen auf den Gehwegen, Frauen graben schon die Gärten um, nur vereinzelt sind schwerbewaffnete serbische Tschetniks mit ihren Bärten und dem auf der Mütze angenähten Totenkopf zu sehen. Vor einem Lagerhaus treffen wir auf die Lastwagen von Equi Libre. Die Türen der Laderäume stehen offen, eilig werden Pakete auf Paletten verladen und in das Innere des Lagers gebracht. Die Fahrer bedeuten uns, möglichst schnell weiterzufahren. Der Wegzoll wird gerade erbracht.
Am letzten Checkpoint der Serben kurz nach Ilidza beginnt das Niemandsland. Heute ist jedoch alles ruhig. Wurden hier noch vor Tagen heftige Gefechte ausgetragen, so könnte die Lage jetzt fast als idyllisch beschrieben werden. Ein Skilangläufer hat sich eine Piste gesucht, vor den kleinen serbischen Einfamilienhäusern weht die frischgewaschene Wäsche. Nur die Holzbretter vor den Fenstern zeugen davon, daß dieses Gebiet von zwei Seiten aus unter Beschuß genommen werden kann. Doch als wir den Schutz der Häuser verlassen und sich die Piste nach links in Richtung Stadt wendet, wird das ganze Ausmaß der Zerstörung deutlich. Jetzt heißt es schnell fahren, denn in jeder der Fensterhöhlen, die uns nun umgeben, könnte ein Scharfschütze lauern. Panzer und Autowracks weisen uns den Weg. Doch die gespenstische Fahrt hat bald ein Ende. Freundlich und lässig grüßt der erste Posten der bosnischen Armee. Diesen Weg wird der Konvoi aus Straßburg ebenfalls nehmen müssen.
„Heute ist ein ruhiger Tag, bisher soll es laut Radio erst hundert Vorfälle gegeben haben“, erklärt ein Mann, der gerade Holz auf einem Schlitten transportiert. Mitten in der Altstadt von Sarajevo, zwischen den verrammelten Buden des früher so lebendigen Basars, gibt er gerne Auskunft. Sein Gesicht ist fahl. „Wegen der fehlenden Vitamine“, sagt er fast entschuldigend. „Die internationale Hilfe hat uns am Leben erhalten. Dafür sind wir dankbar. Ohne sie wären wir schon lange tot. Doch welche Bedeutung hat das noch?“ Beim Hungerstreik, der eine Woche zuvor von der Regierung ausgerufen worden war, um gegen die unterlassene Hilfe gegenüber den Enklaven in Ostbosnien zu protestieren, hätten fast alle mitgemacht, es wurden ja auch keine Lebensmittel mehr verteilt. Müde zuckt er mit den Achseln. „Wissen Sie, wir sind doch schon seit Monaten im Hungerstreik. Wann hört das bloß alles auf?“
Es ist ein ruhiger Tag in Sarajevo. Auf die Granaten, die gerade einige hundert Meter weiter fallen, achtet niemand. Alle, die auf der Straße sind, gehen ohne Zögern weiter. Es wird dunkel. Erst am nächsten Morgen finden wir den Ort, wo die Granaten eingeschlagen sind, in der „Gazi Husref Beg“-Moschee in der Vase-Miskina-Straße. „Gestern, zu Beginn des Nachmittagsgebets am ersten Tag des Ramadan, haben sie getroffen.“ Der Wärter läßt uns ein. Ein Fenster ist zerschlagen, ein Teil der Mauer beschädigt. „28 Verletzte hat es gegeben, ein Kind ist tot.“ Auch auf der Straße sind die Einschlaglöcher zu sehen. Gerade in der Nähe der Wasserstelle, wo die Leute anstehen. Es war also ein ganz ruhiger Tag in Sarajevo. Nur ein Kind tot, 28 Menschen verletzt. Es waren die mit Vorbedacht gezielten Schüsse einer außer Rand und Band geratenen Soldateska.
Doch in der Altstadt regt sich Leben. Im alten Hotel Europa, das völlig zerstört war, wird wieder gezimmert und gehämmert, die Fenster sind sorgfältig mit Plastikbahnen verhängt. Trotz des Artilleriebeschusses sieht es so aus, als könne die Altstadt wieder aufgebaut werden, sollte es Frieden geben. Trotz der beißenden Kälte hat hier niemand Hand an die alten Bäume vor den historischen Gebäuden gelegt. „Sie wollen nicht nur den Genozid, sie wollen auch den Urbanozid“, sagt Milan K., ein Serbe, der auf dieser Seite bleiben und kämpfen will. „Ich bin Bosnier und Serbe, die auf der anderen Seite sind doch nur primitiv.“ Ein bißchen Rache des Dorfes gegenüber der Stadt schwinge bei ihnen mit, wenn sie Granaten abschössen. „Das machen gerade jene, die vom Dorf in die Stadt gekommen sind, aber die Stadtkultur niemals begriffen haben.“
In einem Lagerhaus des UNHCR ist gerade ein Konvoi der UNO-Hilfsorganisation eingetroffen. Säcke, Kisten und Pakete werden ausgeladen und mit Gabelstaplern aufgeschichtet. „Zur Zeit haben wir genug Vorräte hier, um die Stadt einige Wochen lang am Leben zu erhalten“, sagt der Verantwortliche. „Als beim Hungerstreik die Lebensmittel nicht ausgegeben werden konnten, hatten wir gar keinen Platz mehr für das Zeugs.“
Hinter den gepanzerten Fahrzeugen eines UNO-Personentransportes nach Kiseljak geht es wieder auf serbisch gehaltenes Gebiet. Am Checkpoint öffnen bewaffnete Zivilisten umstandslos die Türen der UNO-Transporter und lassen einen Blick über die Passagiere gleiten. Auch das Journalistenauto wird zügig abgefertigt. In der Ferne ist wieder Artilleriefeuer zu hören. Auf der Höhe, beim zweiten serbischen Checkpoint angelangt, steht die Schlange der LKWs aus Straßburg. Wagen für Wagen wird geöffnet, uniformierte serbische Soldaten beeilen sich, Kisten und Pakete auf Schubkarren abzutransportieren. Ein Paket öffnet sich: da gibt es Elsässer Würste, Trockenfrüchte, Kaffee und Schokolade, eingepackt in Geschenkpapier.
„Wir müssen etwas abgeben, sagt einer der Organisatoren, „aber nicht 30 Prozent, den Rest bekommen wird durch.“ Es sind die von Familien gepackten Pakete, die den serbischen Soldaten übergeben werden, nicht die Normpakete. Ob sich Frau X vorgestellt hat, daß ihr liebevoll zusammengestelltes Paket anstatt an Kinder in Sarajevo an die Soldateska geht? Daß es dazu dient, die Mäuler der hungrigen Soldaten zu stopfen? „Ohne die internationale Hilfe könnte unsere Armee gar nicht bestehen“, gibt eine serbische Soldatin freimütig zu.
„Was ist das eigentlich für eine ,humanitäre Hilfe‘, die dazu dient, den Krieg zu verlängern“, fragt eine finnische Journalistin. „Sind denn alle Seiten gleich zu behandeln, die Opfer wie die Aggressoren?“ Auch die Ankündigung des US-amerikanischen Präsidenten, die Hilfe für die Enklaven würde von hoch fliegenden Flugzeugen abgeworfen, stößt bei ihr auf wenig Gegenliebe: „Der Wind wird ein übriges tun, die Hilfsgüter ,gerecht‘ zu verteilen...“ Die Fahrer des Konvois aus Straßburg können darauf keine Antwort geben – sie sind froh, endlich nach Sarajevo zu gelangen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen