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Straßen in Shanghai

1

Der weiße Schmetterling im Park wird von vielen gelesen.

Ich liebe diesen Kohlweißling so, als wäre er eine flatternde Ecke der

Wahrheit selbst!

Im Morgengraun treten die Völkermassen unsern stillen Planeten in Gang.

Da füllt sich der Park mit Menschen. An jedem acht Gesichter, poliert

wie Jade, für alle Situationen, um Irrtümer zu vermeiden.

An jedem auch das unsichtbare Gesicht: es spiegelt „etwas, worüber

man nicht spricht“.

Etwas, das in müden Stunden auftaucht und herb ist wie ein Schluck

Kreuzotterschnaps mit dem langen schuppigen Nachgeschmack.

Die Karpfen im Teich bewegen sich ständig, sie schwimmen im Schlafen,

sie sind das Vorbild für den Gläubigen: stets in Bewegung.

2

Es ist mitten am Tag. Die Wäsche flattert im grauen Seewind hoch

über den Radfahrern,

die in dichten Schwärmen kommen. Achte auf die Nebenlabyrinthe!

Ich bin umgeben von Schriftzeichen, die ich nicht deuten kann, ich bin

durch und durch Analphabet.

Doch ich habe bezahlt, was ich mußte, und habe für alles eine Quittung.

Ich habe viele unleserliche Quittungen gesammelt.

Ich bin ein alter Baum mit welkem Laub, das noch dranhängt und nicht zu

Boden fallen kann.

Und ein Hauch von der See bringt alle diese Quittungen zum Rascheln.

3

Im Morgengraun trampeln die Menschenmassen unsern stillen Planeten

in Gang.

Wir sind alle an Bord der Straße, es herrscht Gedränge wie auf dem Deck

einer Fähre.

Wohin sind wir unterwegs? Reichen die Teebecher? Wir können uns

glücklich schätzen, an Bord dieser Straße gekommen zu sein!

Es ist tausend Jahre vor der Geburt der Klaustrophobie.

Hinter jedem, der hier geht, schwebt ein Kreuz, das uns überholen, an uns

vorbeigehn, sich mit uns vereinigen will.

Etwas, das sich von hinten an uns heranschleichen und uns die Augen

zuhalten und flüstern will: „Rat mal, wer da ist!“

Wir sehen fast glücklich aus in der Sonne, während wir verbluten aus

Wunden, von denen wir nicht wissen.

aus: Für Lebende und Tote (1993)

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